Es hätte der Tag des Triumphs für Theresa May werden sollen. Es ist der Tag eines Debakels für sie geworden. Stärker als gestern wollte sie heute sein. Nun ist sie schwächer, und zwar deutlich schwächer. Die absolute Mehrheit im Unterhaus ist weg. Künftig geht Regieren für May wahrscheinlich nur mit einem Junior-Partner. Was für eine Katastrophe.
Eigentlich hätte es für May nur eine Konsequenz geben können: Den Rücktritt nämlich. Doch zurückgetreten ist sie nicht. Dass May weiter an ihrem Amt festhält und sich bereit erklärt, weiter Premierministerin zu bleiben, ist Zeichen der altbekannten Politikerkrankheit: Einmal an der Macht ist es so schwer sie loszulassen. Egal, welche Stürme da so über einen hinwegfegen können.
Nun könnte der Rest Europas darüber den Kopf schütteln und einfach zum Tagesgeschäft übergehen. Denn da Mays konservative Tories trotz der Verluste dennoch mit Abstand stärkste politische Kraft im britischen Unterhaus sind, wird sich auch an der Politik von Großbritannien nicht viel ändern. Die Nuance liegt dabei im "nicht viel". Denn das "nicht viel" könnte für die EU durchaus Folgen haben. Langfristige Folgen, mit weitreichenden Auswirkungen.
Denn eins müsste auch Theresa May verstanden haben: Ein Mandat für knallharte Brexit-Verhandlungen mit der EU hat die Mehrheit der Briten ihr nicht gegeben. Ein solches Mandat hatte sie eigentlich bekommen wollen. Mehr Sitze im Parlament, mehr Rückendeckung für gnadenlose Verhandlungen mit der EU. Und wenn nötig, sogar kein Ergebnis. "No deal is better than a bad deal" - Kein Vertrag ist besser als ein schlechter Vertrag – ihr Wahlkampfmantra hat ihr keine Zugewinne gebracht, sondern Verluste.
Und deshalb darf die EU jetzt gespannt sein, mit was für Vorstellungen sich May eines Tages an den Verhandlungstisch setzen wird. Schon allein die Tatsache, dass May eventuell mit der Partei der nordirischen Protestanten eine Koalition bilden könnte, lässt wenig Spielraum für weiter harte Brexit-Verhandlungen.
Denn wenn den Iren ihr politisches Überleben in Nordirland wichtig ist, können sie nicht einen harten Brexit oder sogar gar keinen Vertrag mit der EU wollen. Das würde wahrscheinlich nämlich auch zu einer klaren Außengrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland führen. Wirtschaftlich ein Katastrophen-Szenario für alle Iren.
Bei der EU könnten sich die politischen Führungskräfte über diese Wendung freuen. Doch nur wenige, vor allem Linke, Grüne und Sozialdemokraten im Parlament, äußerten heute die Hoffnung, dass es jetzt zu einem gemäßigteren Brexit kommen könnte. Ein Brexit, wo Bürgerbelange auch seitens Großbritanniens wieder hoch im Kurs stehen. Bei der EU stehen sie das ja sowieso.
Die meisten Stimmen aus der EU hingegen waren verzweifelt darüber, dass der Wahlausgang in Großbritannien sehr wahrscheinlich eins bedeutet: nämlich eine noch längere Verzögerung des Beginns der Verhandlungen. Wer weiß, wie lange May einen Koalitionspartner suchen muss? Wer weiß, wie lange es dann dauern wird, sich mit ihm auf eine gemeinsame Brexit-Linie zu einigen? Keiner weiß das.
Und das macht die EU nervös. Die Zeit tickt nämlich. Nachdem Theresa May den Austrittsgesuch Ende März eingereicht hatte, gab es laut EU-Vertrag genau zwei Jahre Zeit, diesen Austritt vertraglich abzusichern. Durch das unerwartete Ausrufen der Neuwahlen wenige Tage später ließ May bereits kostbare Verhandlungszeit ungenutzt verstreichen. Wenn der Brexit bis Ende März 2019 nicht geregelt ist, was dann?
Die EU will gar nicht daran denken. Sie will den Brexit im vorgegebenen Zeitrahmen abwickeln. Weil sie sie weiß, dass sonst alle Verlierer sein werden. Europäer wie Briten.
Nur May vielleicht nicht. Sie hätte ihr Ziel dann trotz der Wahlschlappe gestern doch noch erreicht. Nämlich: Lieber keinen Deal, als ein Deal, hinter dem sie nicht voll stehen kann. Ein trauriger, ein egoistischer Sieg wäre das.
Kay Wagner - Foto: Adrian Dennis/AFP