Rund zwei Monate nach ihrer Verhaftung hat die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan in einem Brief an die Deutsche Welle die "volle Solidarität und Unterstützung" Europas gefordert. Jede Meinung, die auch nur ein bisschen von der der Herrschenden abweicht, werde in der Türkei gewaltsam unterdrückt, so die Autorin.
"Dieser Brief ist ein dringender Hilferuf. Die Situation ist drastisch und extrem besorgniserregend. Ich bin überzeugt, dass ein totalitäres Regime in der Türkei Auswirkungen auf ganz Europa haben wird."
Die Schriftstellerin, die denselben Familiennamen wie der Staatspräsident trägt, appelliert an Europa, Verantwortung zu übernehmen und sich für Demokratie, Menschenrechte und freie Meinungsäußerung einzusetzen. Man könnte erwarten, dass eine solche Forderung in der EU ernstgenommen wird. Doch ganz offensichtlich sind trotz aller Ungeheuerlichkeiten erst einmal keine politischen Konsequenzen zu erwarten.
Europa laviert weiterhin in der Frage, wie deutlich man angesichts der stets neuen Verstöße des türkischen Staatspräsidenten gegen die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie reagieren möchte. Denn die Europäische Union hält offensichtlich an ihrem inzwischen völlig utopischen Ziel fest, die Türkei in einen "Leuchtturm" der Demokratie zu verwandeln - mit entsprechender Strahlkraft in die islamische Welt. Zu harte Kritik könnte den Gesprächsfaden wieder abreißen lassen.
Unterdessen hat die Türkei der Europäischen Union mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens noch vor Ende dieses Jahres gedroht, sollte ihre Forderung nach Visafreiheit für türkische Bürger in der EU nicht bald erfüllt werden. Die Türkei hatte ja bekanntlich der EU zugesichert, alle Flüchtlinge zurückzunehmen, die seit März in Griechenland ankommen. Im Gegenzug verpflichtete sich die EU, die gleiche Zahl syrischer Flüchtlinge aus der Türkei aufzunehmen.
Ein weiteres Dilemma: Die Türkei debattiert ein Jahrzehnt nach ihrer Abschaffung erneut über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Auch das ist ein Anzeichen dafür, dass der Einfluss der EU auf Ankara stetig nachlässt. Erdogan ist sozusagen jedes Mittel recht, um sein Präsidialsystem durchs Parlament zu bringen. Dazu bedarf es allerdings der Unterstützung nationalistischer Gruppierungen in der Opposition. Um die Meinung aus Brüssel in dieser Frage schert sich Erdogan kein bisschen.
Er kann sogar darauf setzen, dass die EU vor allem wirtschaftlich ein großes Interesse daran hat, die Kontakte zur Türkei auszubauen. Mit ihrer wachsenden Bevölkerung und den vielen qualifizierten Fachkräften ist die Türkei für die EU ein interessanter und lukrativer Markt.
Entsprechend moderat bis vorsichtig fielen die Reaktionen aus der EU und vor allem aus Deutschland auf die jüngsten staatlichen Gewaltakte in der Türkei aus. Die Verhaftung von Journalisten der wichtigen linksliberalen Zeitung "Cumhuriyet" entlockte der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zunächst nur die Feststellung, man sei besorgt, um schließlich nachzulegen, man sei "alarmiert wegen der Verletzungen von Presse- und Meinungsfreiheit".
Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlement, Manfred Weber, erklärte an diesem Freitag im ARD-Morgenmagazin, Erdogan müsse zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehren und könne nicht mit Kollektivschuld-Methoden vorgehen. Hintergrund war die gerade bekanntgewordene Verhaftung weiterer türkischer Oppositionspolitiker. Weber fügte sich ein in die Reihe der Europapolitiker, die aus politischem Kalkül keine klare Kante zeigen mögen.
Umso verständlicher, dass der ins Berliner Exil geflüchtete ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar ein "mutiges Signal für die Demokratie in der Türkei" aus der Europäischen Union fordert. "Seit Jahren sind die Europäer dauernd besorgt", klagte er in einem Interview mit der Zeitung "Welt". Und er ergänzte resigniert: "Aber das ändert nichts." Wohl wahr!
Die Türkei ist auf dem Weg in die Diktatur, das jetzige System trägt bereits seit langem Züge eines totalitären Regimes. Und Europa spielt als Zauderer mit in diesem Drama, opfert seine Prinzipien auf dem Altar eigener wirtschaftlicher, militärischer und gesellschaftlicher Interessen.
Vor allem das Abebben der Flüchtlingsströme in diesem Jahr haben ultrarechten, nationalen Strömungen in vielen EU-Ländern das Wasser abgegraben. Und dabei ist der unselige Deal mit der Türkei ein wichtiger Faktor. Denn die nächsten Wahlen kommen sicher, und da gilt es, Mehrheiten zu sichern.
Weniger Flüchtlinge, das bestätigen auch Meinungsumfragen, bringen mehr Stimmen. Das dringend erforderliche politische Kaltstellen Erdogans hingegen lässt in der Europäischen Union die meisten kalt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass moralische Maßstäbe längst keine Instrumente der Realpolitik mehr sind.
Also lässt man Erdogan erst einmal gewähren, hofft, dass dessen zarte Freundschaft mit Putin keinen Austritt der Türkei aus der Nato zur Folge hat. Denn das könnte dann sicherheitspolitisch tatsächlich eng werden für den alten Kontinent. Politische Beobachter sehen schon eine neue Achse Damaskus-Ankara-Teheran-Moskau.
Und wenn Trump die Wahlen in den USA gewinnt, käme womöglich noch Washington dazu ... Es ist eben die Zeit der Horrormeldungen und Horrorszenarien. Nicht alle dürfen Wirklichkeit werden.
Rudi Schroeder
Der Kommentator beschreibt nur das, was schon immer üblich war. Seit jeher wurden doch von der westlichen Welt Diktatoren aller Art geduldet und unterstützt. Darum sollte man sich nicht scheinheilig aufregen.
Belgien hat doch jahrelang afrikanische Diktatoren wie Mobutu, Kabila, etc unterstützt und davon profitiert. Man sollte bedenken, dass ein Diktator das geringere Übel ist, da er zumindest für eine gewisse Stabilität sorgt. Einen Diktator beseitigen. bedeutet Chaos wie in Libyen oder Syrien.
Mit dem Unterschied Kabila und Mobuto wollten nicht in die EU.