Die ersten Probentage gehören traditionell den Teilnehmern der beiden Halbfinals, bevor dann den Big Five und dem Gastgeberland die Bühne gehört. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien sind als die Geldgeberländer bereits für das Finale qualifiziert, ebenso wie die Siegernation Ukraine. Die Beiträge sind sehr gemischt: Ballade aus Italien und Frankreich bis Heavy Metal aus Deutschland.
Frankreich - Deutschland - Italien
Frankreich hat diesmal eine interne Auswahl getroffen. Die Entscheidung fiel auf La Zarra, die in Kanada geboren wurde. "Évidemment" ist ein echtes französisches Chanson über die Komplexität der Liebe. La Zarra ist eine ganz und gar extravagante Darstellerin, ganz im Stil der großen Diven mit großer Gestik und außergewöhnlichen Kostümen. So präsentiert sie sich auch hier in Liverpool. Wo sie auch auftaucht, ist sie der große Hingucker. Es wird ein beeindruckender Auftritt von La Zarra. Sie steht auf einem glitzernden Sockel und trägt ein eng anliegendes Kleid, das vollständig aus schwarzen und roten Pailletten besteht. Der Sockel ist eine sich bewegende Säule fünf Meter über dem Boden, die bis zum Boden in glitzernden schwarzen Stoff gehüllt ist. Der Stoff verschwindet irgendwann und gibt eine zylindrische Säule mit einer verspiegelten Oberseite frei. Im Hintergrund die französische Flagge auf den LEDs. Frankreich gelingt damit sicher ein Beitrag unter den ersten fünf.
Lord of the Lost vertreten Deutschland mit dem Song "Blood and Glitter". Die Heavy Metal Band aus Hamburg setzte sich bei der deutschen Vorentscheidung "Unser Lied für Liverpool" durch. Das Lied ist zwar klar sehr hardrockig, verfügt aber unerwarteterweise über eine Melodie und das macht es wieder sehr ESC-tauglich. Lord of the Lost rund um Leadsänger Chris Harms sind in Liverpool allgegenwärtig und geben Konzerte. Besonders beeindruckt hat mich ihr Song als Unplugged-Version, die sie im legendären Cavern-Club in der Liverpooler Mathewstreet gespielt haben. Leider kommen sie wie die bösen ESC-Buben rüber, mir persönlich wäre die Unplugged-Version lieber, aber um mich geht es ja hier nicht. Ähnlich wie bei der Vorentscheidung stehen ein paar der Jungs auf einem Metallgerüst, hier in Liverpool aber etwas größer und in Dreiecksform, dahinter rote und schwarze LEDs und eine blinkende Lichtshow. Die spektakulären Kostüme sind dieselben. Chris, Pi, Klaas, Tobi und Gerrit dürfen sich auf royale Daumendrücker freuen: Im Rahmen seines Staatsbesuches traf König Charles III auch Lord Of The Lost während eines Empfangs der Britischen Botschaft im Hamburger "Schuppen 52". Charles wünschte den Jungs für Liverpool viel Glück. Vielleicht ist es ja ein gutes Omen für den deutschen Beitrag. Ich lege mich fest, wenn ich sage, dass der deutsche Beitrag in diesem Jahr nicht "mit dem leichten Gepäck von null Punkten" nach Hause fährt, wie Chris es formulierte. Das wird mindestens ein Platz im Mittelfeld, wenn nicht sogar eine große Überraschung.
Das Festival von Sanremo ist für Italien der bedeutendste Musikwettbewerb und der älteste Popmusikwettbewerb Europas. Über fünf Abende wird der Sieger oder die Siegerin ermittelt. Die einzelnen Shows dauern fünf bis sechs Stunden. Im Prinzip ist das Sanremo-Festival ein eigener Song Contest. Traditionell wird dem Sieger angeboten, Italien beim ESC zu vertreten. Das ist in diesem Jahr Marco Mengoni, der sein Land schon 2013 in Malmö vertreten und damals den siebten Platz erreicht hat. Eigentlich war schon seit dem ersten Abend klar, dass Marco mit seiner romantischen Ballade "Due Vita" ganz vorne mitmischen wird. Schon direkt nach seinem Sieg bestätigte er seine Bereitschaft zur Teilnahme am ESC. Marco steht in schwarzer Lederhose und einer silbern glitzernden Weste auf der Bühne, unterstützt von wirbelnden Wolken an der LED-Wand und dem größten Mond seit Spaniens Blas Canto 2021. Aber eigentlich gilt alle Konzentration der Inszenierung Marco ganz allein.
Spanien - Ukraine - Großbritannien
Blanca Paloma, die Siegerin des Benidorm-Festivals, kehrt mit ihrem Beitrag für Spanien zurück zu traditionellen Klängen. Den Titel "Eaea" schrieb sie gemeinsam mit Alvaro Toto und José Pablo Polo als Hommage an ihre verstorbene Großmutter, deren Liebe zum Flamenco sie teilt. "Eaea" ist ein Lied voller Flamenco-inspirierter Klänge und synkopierter Beats, das im Einklang mit Blancas Markenzeichen steht, Traditionelles mit Avantgarde und modernem Pop zu vermischen. Die Sängerin produziert derzeit ihr Debütalbum. Blanca hat eine unglaublich tolle Stimme und der Beitrag ist perfekt inszeniert. Der Auftritt spiegelt viel Magie wider, mit zwei roten halbkreisförmigen Vorhängen in der Mitte der Bühne, die einen Kreis bilden, umgeben von schwarzer, roter und weißer Beleuchtung. Die Szene fühlt sich dramatisch und intim an. Spanien wird damit sicherlich eine Top-Ten-Platzierung erreichen.
Titelverteidiger Ukraine schickt das musikalisch größtmögliche Kontrastprogramm im Vergleich zu den Vorjahressiegern Kalush Orchestra nach Liverpool. Tvorchi inszenieren ihren Auftritt sehr stylish-kühl, nahezu steril. Die beiden haben zwei ganz in schwarz gekleidete Tänzer mitgebracht, die sich gut in das sehr coole Bühnendesign einfügen. Dominierende Farben sind ein bläuliches gelb, aber auch silber, dunkelrot und dunkelblau. Jeffery und Andrii, zwei Freunde, die sich an der Uni kennengelernt haben, hatten mit vier Alben und mehreren Hitsingles viel Erfolg im Land. In den Jahren, seit sie mit den gemeinsamen Aufnahmen begonnen haben, haben die beiden vier Alben veröffentlicht, von denen jedes den ersten Platz in den wichtigsten Musik-Charts der Ukraine erreichte. Ihr neuestes Album Road schlug sogar Kanye West und Drake an der Spitze und verzeichnete mehr als drei Millionen Streams. Wie zu erwarten ist, geht es bei "Heart of Steel" um Tapferkeit. Das Team sagt, dass es in dem Lied darum geht, in seinen Handlungen, Ausdrucksformen und Gedanken frei zu sein und weiterzumachen, egal wie erschöpft und verletzt man ist. Aufgrund der aktuellen Situation in der Ukraine wird der Titel wohl unter den Top fünf landen.
In Großbritannien scheint man unbedingt verhindern zu wollen, den ESC im nächsten Jahr wieder ausrichten zu müssen. Anders kann ich den Auftritt von Mae Muller nicht interpretieren. "I wrote a song" ist die Abrechnung mit einem betrügerischen Ex-Freund. Der zeitgenössische Popsong wurde direkt nominiert. Beim Auftritt trägt Mae eine enge schwarze Hose mit einer Korsettjacke, dazwischen ein transparentes Etwas. Das Outfit scheint, man möge mir verzeihen, zwei Nummern zu klein. Vielleicht wird dadurch auch Maes Stimme eingeklemmt, denn die kam bei keiner Probe bisher sauber rüber. Die Szene beginnt auf einem erhöhten Sockel vor der LED-Wand. Es gibt einen Abschnitt am Anfang, in dem sich Maes Gesicht horizontal in zwei Teile teilt, sodass sie buchstäblich in ihrem eigenen Kopf ist. Es verleiht dem Ganzen eine Pop-Videoqualität, die man mögen muss. Sie wird von vier Tänzern in Rot und Schwarz flankiert, die mit ihr an der Spitze der Bühne eine sehr ausgefeilte Choreo präsentieren. Nichts für die oberen Plätze.
Biggi Müller