Der Name „Mignon“ ist wohl kaum allen Musikfreunden geläufig - und auch Komponist Ambroise Thomas wird wohl den meisten eher unbekannt sein. Dennoch war diese französische Oper aus dem Jahr 1866 in den Jahrzehnten nach ihrer Uraufführung eine der populärsten im Repertoire und sie war die erste Oper überhaupt, die zu Lebzeiten ihres Komponisten mehr als 1.000 Mal aufgeführt wurde.
Dieser Erfolg war auch die Ursache für die unzähligen verschiedenen Versionen, die von ihr mittlerweile existieren. Nicht nur wurden vom Komponisten selbst immer wieder Musikstücke und Arien hinzugefügt oder weggelassen, um das Werk dem aktuellen Musikgeschmack anzupassen - Ambroise Thomas hat sogar den Schluss der Oper komplett umgeschrieben, um näher an der literarischen Vorlage zu bleiben.
Die Librettisten Jules Barbier und Michel Carré haben sich für die Handlung der Oper nämlich auf den Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ von Johann Wolfgang von Goethe basiert oder zumindest auf einen Teil davon. Und bei Goethe stirbt die Hauptfigur Mignon am Ende einen tragischen Tod.
Ursprünglich endete die Oper auch mit dem Tod von Mignon, aber beim französischen Publikum kam dieses Ende nicht gut an. Deshalb wurde schon bald nach der Premiere der Schluss in ein Happy-End umgewandelt, was aber wiederum dem Publikum in Deutschland nicht gefiel. Die Deutschen wollten für die Oper ein Ende, das näher am Goethe-Roman lag, und so verfasste Ambroise Thomas wieder eine neue Version, um es auch dem deutschen Publikum recht zu machen.
In Lüttich wird übrigens die ursprüngliche Version der Partitur von „Mignon“ gegeben, in der am Ende der Tod von Mignon angedeutet wird, auch wenn diese auf der Bühne bis zum Schluss quicklebendig bleibt. Und nicht nur die Musik ist in Lüttich original, sondern auch die Aufführung nach den Traditionen der französischen „Opéra Comique“. Dabei wechseln sich Musikstücke und lyrische Arien mit gesprochenen Passagen ab. Zugegeben, diese gesprochenen Dialoge ziehen das ganze Werk etwas in die Länge - wohl auch ein Grund, weshalb Ambroise Thomas später auch eine rein musikalische Version der Oper verfasst hat.
Mignon ist eine Oper über die Suche nach Identität. Die Hauptfigur, die junge Mignon, lebt unfreiwillig bei einer Zigeunertruppe und erinnert sich nicht an ihre Herkunft. Der junge und reiche Reisende Wilhelm Meister kauft sie von den Zigeunern frei, woraufhin Mignon bei ihm bleibt und sich in ihn verliebt. Wilhelm Meister aber interessiert sich mehr für die frivole Schauspielerin Philine. Daraufhin entwickelt sich eine Dreiecksgeschichte rund um die Rivalität der beiden Frauen und ihr Werben um Wilhelm Meister. Im weiteren Verlauf wird Mignon durch ein Feuer schwer verletzt, Wilhelm rettet sie aus den Flammen und erkennt am Ende seine wahren Gefühle für Mignon.
Die Produktion in Lüttich wird geleitet von Dirigent Frédéric Chaslin. Chaslin hat schon in den größten Opernhäusern der Welt gearbeitet und diese Erfahrung ist in der Leistung des Orchesters deutlich hörbar. Alles ist äußerst präzise, sauber und mit größter Musikalität gespielt. Das immer hervorragende Orchester der Lütticher Oper spielt die sehr gefällige Musik von Ambroise Thomas auf einem Niveau, das der Oper eine zusätzliche Dimension verleiht. Hinzu kommt die individuelle Klasse der Sängerinnen und Sänger, unter denen die Belgierin Jodie Devos als frivole Schauspielerin Philine der absolute Star des Abends ist. Aber auch die Französin Stéphanie D‘Oustrac als Mignon und Philippe Talbot als Wilhelm Meister liefern eine hervorragende Leistung ab.
Das Bühnenbild und die Kostüme sind absolut gelungen. Das Theater spielt eine wichtige Rolle in der Oper und so besteht das Bühnenbild eben aus einer Theaterbühne und im Hintergrund sieht man das Publikum dieses Theaters - die Opernbühne in Lüttich wird somit quasi zum Spiegel. Die Kostüme durchlaufen eine Art Zeitreise: Anfangs erscheint zum Beispiel Mignon in einem Mozart-ähnlichen Outfit des 18. Jahrhunderts und zum Ende der Oper tragen die Hauptfiguren Jeans und Sportschuhe. Doch diese modernen Ansätze sind nie störend oder weit hergeholt und sie tragen durchaus zum absolut gelungenen Gesamteindruck dieser Opernproduktion in Lüttich bei.
Alle weiteren Informationen zur aktuellen Produktion gibt es unter operaliege.be.
Patrick Lemmens