Wolfgang Niedecken lehnt an dem Grabstein wie an einer Bar-Theke. Ganz locker, ganz entspannt. "Tja", sagt er. "Die Mamm und der Bapp." Beide liegen sie hier: Mama Tinny und Papa Josef Niedecken. Sie starb im Jahr 2000, er schon 1980, wenige Monate, bevor BAP erstmals durchstartete. Die Gruppe trägt seinen Namen: "Bapp" ist das kölsche Wort für "Papa", nur das zweite "p" wurde weggelassen. Zustande gekommen ist der Name, weil der Sohn beim Proben so viele Geschichten über die Sparsamkeit seines Vaters erzählte.
Am Dienstag (30. März) wird Wolfgang Niedecken 70. Das ist ein Anlass, zu dem man schon mal zurückblicken darf. Obwohl er eigentlich nicht so der Jubiläumstyp ist. "Ich hab's überhaupt nicht mit Zahlen. Klar, mit 70 denkt man sich: Mal sehen, wie lang's noch weitergeht."
Wenn man Wolfgang Niedecken vor sich sieht, erfüllt er quasi das Idealbild des in Ehren ergrauten Rockers: Volle weiße Haarmähne, zünftiger Bart, dunkle Sonnenbrille, Jeansjacke - und kein Bauchansatz erkennbar. Es ist ihm nicht anzusehen, dass er vor zehn Jahren einen schweren Schlaganfall erlitten hat. Damals hätte nicht viel gefehlt, und er wäre schon mit 60 von der Bühne abgetreten. "Ich wäre nicht beruhigt gestorben", schreibt er am Ende seiner zweibändigen Erinnerungen, die jetzt erstmals in der Zusammenschau erschienen sind. "Der Tod hätte mich auf dem falschen Fuß erwischt." Alles was seitdem noch gekommen ist, betrachtet er als Zugabe. Und das ist mittlerweile so einiges.
Zugabe
Als erstes erschien 2013 das Solo-Album "Zosamme alt", aufgenommen in Woodstock. Es folgten 2014 die Unplugged-Tour von BAP mit dem Live-Album "Das Märchen vom gezogenen Stecker", 2016 das BAP-Studio-Album "Lebenslänglich" und dann die Tour zum 40-jährigen Bandjubiläum. 2017 spielte Niedecken in New Orleans das "Familienalbum" ein mit lauter Songs über seine bunt gescheckte Verwandtschaft, begleitet von der Tournee "Strooßekööter". Das Live-Album davon stieg auf dem ersten Platz in die Charts ein. "Damit hätten wir in unseren kühnsten Träumen nicht gerechnet."
Noch viel wichtiger als der berufliche Erfolg ist ihm die Familie. Von seiner Frau Tina sagt er, dass sie sein Schutzengel sei, seine Lebensretterin. Denn sie war es, die 2011 die ersten Anzeichen des Schlaganfalls sofort richtig deutete und den Notarzt alarmierte. Nicht auszudenken, was er andernfalls womöglich verpasst hätte. Erst vor einem Jahr hat er binnen neun Tagen zwei Enkel bekommen: Noah und Quinn. Beide wurden im Severinsklösterchen geboren, dem Krankenhaus in der Kölner Südstadt, in dem vor 70 Jahren schon Opa Wolfgang das Licht der Welt erblickte. "Wenn wir morgens wach werden, ist erstmal Noah-TV angesagt." Den sozialen Netzwerken sei Dank.
Schwieriges Verhältnis zum Vater
Die letzten Strahlen der Nachmittagssonne fallen genau auf das Grab. Für echte BAP-Fans ist es ein legendärer Ort, denn die wohl bekannteste Zeile aus dem doch beachtlichen Gesamtwerk der Band lautet: "Verdammp lang her, dat ich bei dir ahm Jraav wohr", "Verdammt lang her, dass ich bei dir am Grab war". Der Song beschreibt das schwierige Verhältnis zu seinem Vater, der von seinen künstlerischen Ambitionen nichts hielt.
"Ein herzensguter Mensch", sagt er über ihn. "Hat sich immer nur Sorgen um mich gemacht. Alles, womit wir aneinandergeraten sind, geht im Prinzip darauf zurück." Seit er selbst Vater ist - seit immerhin 38 Jahren - kann er das nachvollziehen. So manches sieht der gereifte Rocker heute in einem milderen Licht. Manches - aber nicht alles. Wenn es etwa um Rechtsextremismus geht, dann ist er sofort wieder auf den Barrikaden. Vergangenes Jahr noch veröffentlichte die Gruppe dazu den Titel "Ruhe vor'm Sturm".
"Tag Herr Niedecken!", grüßt eine Frau, die das Grab passiert. Eben am Friedhofstor hat er mal kurz einen Rollstuhl repariert, darin saß ein uralter Mann, bei dem er als Kind in der Großmarkthalle zusammen mit seinem Vater Käse für den elterlichen Laden gekauft hat. Solche Begegnungen hat er ständig im Kölschen Kosmos, er ist zu einer Art Lokalpatron geworden. Aber daneben hatte er immer auch den Drang nach draußen. Das war schon in den 50er Jahren so, als der kleine Junge auf der Südbrücke stand und den Rheinschiffen nachsah.
Vorbild Bob Dylan
Besonders eng ist die Verbindung zu den USA, der Heimat seines großen Vorbilds Bob Dylan. Gerade ist ein neues Buch von ihm erschienen, in dem er seine Treffen mit dem Songwriter beschreibt und auf seinen Spuren Amerika bereist. Er ist immer mit irgendetwas zugange. Gleichzeitig strahlt er eine innere Ruhe und Zufriedenheit aus, um die ihn mancher beneidet. Selbst erklärt er es damit, dass er seine Leidenschaft zum Beruf gemacht habe, sich aber gleichzeitig nichts mehr beweisen müsse.
Ob er nochmal auf Tour geht? "Vielleicht war der 16. August 2019 in Bonn mein letztes Konzert", sagt er leicht resigniert. "Da hatte ich am Schluss feuchte Augen, weil ich da schon dachte: Das wird jetzt lange dauern, bevor ich wieder darf." Was er nicht vorhersehen konnte, war Corona. Aufgrund der Pandemie musste er im vergangenen September die Präsentation des 20. BAP-Studio-Albums "Alles fließt" ebenso absagen wie jetzt den geplanten Auftritt an seinem 70. Geburtstag in der Kölner Lanxess-Arena.
Tour nächstes Jahr?
Ein ersatzweiser Online-Auftritt ist für ihn keine Alternative, das liegt ihm nicht. "Dann lieber verschieben. Ich denke, wir machen nächstes Jahr 70a." Am 30. März 2022 also. Dann soll die "Schließlich unendlich"-Tour losgehen. "Ich hoffe sehr, dass das möglich sein wird. Aber 100-prozentig sicher bin ich mir nicht, es muss auf jeden Fall wirtschaftlich sein. Tourneen sind mittlerweile das Einzige, wovon man als Künstler noch leben kann. Bei den Tonträgern herrscht Raubrittertum."
Abschied vom Grab. In den Stein ist eine Mariendarstellung eingelassen, denn Vater Josef war ein großer Verehrer der Gottesmutter. Zuhause im Treppenhaus brannte in der Madonnen-Nische das Ewige Licht - das er allerdings jeden Abend heimlich löschte: um Strom zu sparen. "Wenn meine Mutter von seinen Knausereien mal genug hatte, dann sagte sie nur 'Jo, Josef!'. Und dann wusste er: Jetzt ist Schluss."
In der Nachmittagssonne geht's zurück über den Kölner Südfriedhof. Uralte Bäume, verwitterte Gruften... Wann ist denn eigentlich bei ihm Schluss im Sinne von Abschied, Rückzug, Rente? "Nicht solang ich noch kann." Das nächste Jubiläum ist schon in Sicht: 2026 wird BAP 50 Jahre alt. Haben die Stones doch auch längst geschafft.
Von Christoph Driessen, dpa