Was für ein außergewöhnliches Jahr 2020. Alles war in Lüttich angerichtet, um den 200. Geburtstag des Opernhauses zu feiern. Und dann kam Corona. Im März musste - einen Tag vor der Premiere - Donizettis "La Sonnambula" abgesagt werden, im Herbst war es bei Ambroise Thomas "Hamlet" nicht besser. Auch hier waren die Proben in der Endphase und wieder kam es zum Lockdown. Somit gab es in diesem Jubiläumsjahr bisher nur Puccinis "La Bohème" mit einer phantastischen Angela Gheorgiu als Mimi.
Aber Stefano Mazzonis di Pralafera, der dem Haus als Intendant seit 2007 vorsteht, bleibt guter Dinge, dass im Frühjahr der Opernbetrieb wieder seinen Lauf nehmen wird.
In der Zwischenzeit kann man sich dank der 120 Seiten starken Monographie mit der spannenden und wechselvollen Geschichte des Lütticher Hauses auseinandersetzen und einen Blick in die Zukunft wagen, denn der Titel dieser mit vielen sehenswerten Archivbildern ausgestatteten Publikation will auch einen Blick nach vorne wagen.
Doch zunächst gibt es die Geschichte. Der auf Kulturerbe spezialisierte Historiker Frédéric Marchesani lässt die Geschichte des Lütticher Opernhauses im Herzen der Cité Ardente Revue passieren. Am 4. November 1820 wurde das Haus eröffnet. Es war von Beginn an das Haus der Bürger, denn finanziert wurde der Bau nach Plänen des Architekten Dukers von Aktionären, nicht von der Stadt. Marchesani beschreibt die ersten turbulenten Jahrzehnte mit Auftritten internationaler Stars aber auch mit chaotischen Führungskämpfen, so dass die Stadt letztendlich das Opernhaus 1854 übernahm.
Marchesini erzählt die weitere Entwicklung anhand von kleinen Anekdoten, historischen Vergleichen und im Mittelpunkt steht immer die Musik. Was wurde wann gespielt? Wer gastierte in Lüttich? Es ist sowohl ein Lese- als auch ein Nachschlagewerk. Manch ein Opernbesucher erinnert sich bei der Lektüre der letzten Jahrzehnte mit den Direktoren Raymond Rossius, Paul Danblon und Jean-Louis Grinda sicher an den einen oder anderen Opernabend.
Die Publikation trägt aber den Titel "200 ans et après" und somit sind die abschließenden 40 Seiten des Buches der Analyse der aktuellen Situation der Oper und den Zukunftsperspektiven gewidmet. Hierzu hat der Musikkritiker Serge Martin ein langes Interview mit Operndirektor Stefano Mazzonis geführt, in dem neben den gesellschaftlichen Herausforderungen auch die finanziellen Aspekte und natürlich auch ästhetische Anmerkungen zum Thema Oper ihren Platz finden.
Man kennt die künstlerischen Ansichten Mazzonis, der in Sachen Inszenierung eher eine traditionelle Linie verfolgt, der es aber auch dank hervorragender internationaler Kontakte immer wieder schafft, großartige Sängerinnen und Sänger nach Lüttich zu verpflichten, und all dies beschert der Lüticher Oper seit Jahren stets ausverkaufte Häuser.
Aber Mazzonis ist auch ein Erneuerer, vor allem wenn es um musikologische Entdeckungen geht. So wurde zur Wiedereröffnung des restaurierten Opernhauses im September 2012 die Oper "Stradella" von César Franck aus der Versenkung geholt und Grétrys "Guillaume Tell" erlebte 2014 seine Wiederentdeckung in Lüttich.
"200 et après" bietet einen lesenswerten und unterhaltsamen Streifzug durch die Geschichte der Lütticher Oper. Die sehr schön gestaltete Monographie gibt es in einer französischen und englischen Ausgabe und kostet 15 Euro. Alle Informationen gibt es auch auf der Webseite der Lütticher Oper.
Hans Reul