Auch wenn der von Korngold verlangte große Orchesterapparat auf 59 Musiker heruntergefahren werden muss, auch wenn das Orchester nicht im Graben sondern auf der hinteren Fläche der Bühne spielen muss, auch wenn Regisseur Marius Trelinski sein Inszenierungskonzept aus dem Jahr 2017, das er in Warschau präsentierte, komplett überdenken musste, war es ein in jeder Hinsicht grandioser und bis zur letzten Sekunde musikalisch hochstehender und spannender Opernabend.
"Die tote Stadt" war für den damals 23-jährigen Komponisten Erich Wolfgang Korngold gleich ein Riesenerfolg. Nach der parallelen Uraufführung am 4. Dezember 1920 in Hamburg und Köln rissen sich die Opernhäuser förmlich um dieses Werk. Es war damals die meist aufgeführte Oper überhaupt. Und wenn man diese Musik hört, die an manchen Stellen an Richard Strauss, dann an Alexander Zemlinsky und selbst an Puccini erinnert, und an anderen Stellen schon den späteren erfolgreichen Hollywood-Komponisten Korngold erahnen lässt, ist dies rückblickend mehr als verständlich. Eher fragt man sich, warum wird "Die tote Stadt" so selten gegeben.
Die Oper greift auf einen Roman von Georges Rodenbach zurück, "Bruges, la morte". Das Bild der toten Stadt steht für die verstorbene Marie. Sie war die Ehefrau von Paul, der eines Tages einer Frau begegnet, nämlich Marietta, die Marie zum Verwechseln ähnlich sieht. Er verliebt sich natürlich in Marietta, oder korrekter gesagt in das Bild seiner Marie. Marietta spielt das Spiel mit. Dass sie dem für die damalige Zeit wenig angesehenen Beruf der Tänzerin nachgeht, treibt Paul in die Verzweiflung und am Ende wird er Marietta ermorden. So, ganz kurz zusammengefasst, die reine Handlung der Oper, die aber ganz im Stil der literarischen Vorlage des Symbolisten Rodenbach viel Raum für psychologisch feine Analysen und Darstellungen bietet.
Dem Regisseur Marius Trelinski gelingt es diese Abgründe auf mal subtile, mal eher drastische Art deutlich zu machen. Auf der Bühne sehen wir drei durchsichtige Kästen, in denen die Protagonisten ohne Kontakt zueinander stehen. Da sind Assoziationen zur aktuellen Lage erkennbar. Davon ausgehend entwickelt Trelinski ein intensives Zusammenspiel der einzelnen Figuren. Ihm steht ein stimmlich phantastisches Ensemble zur Verfügung, das auch darstellerisch keine Wünsche offen lässt.
Allen voran Marlis Petersen, zu Recht zum wiederholten Male von der Kritikerwelt zur Opernsängerin des Jahres gewählt. Sie trifft jeden Ton mit ganz natürlich wirkender Präzision, sie spielt, ja wird zur Marietta und zu Maries Erscheinung. Dies ist in dieser um eine Stunde gekürzten und ohne Pause gegebenen Produktion noch bemerkenswerter, denn sie ist fast ständig auf der Bühne präsent. Das Gleiche gilt für den Tenor Roberto Saccà, dem man die Liebessehnsucht, die Verzweiflung aber auch die letztendlich mörderische Konsequenz in jeder Szene abnimmt. Dietrich Henschel ist als Pauls Freund Frank, wie immer eine sichere Bank in Sachen Gesang und schauspielerischer Intensität.
Dirigent Lothar Koenigs hat die unglaublich schwere Aufgabe, das Orchester und Solistenensemble zur Einheit zu führen. Da das Orchester auf der Hinterbühne musiziert, fehlt der direkte Blickkontakt zu den davor agierenden Sängerinnen und Sängern. Aber von Unsicherheiten war nichts zu spüren. Und das Erstaunliche war, dass das Orchester niemals nur zur Klangkulisse wurde, selbst in dieser Reduktion, die von Leonard Eröd stammt, der zurecht in den lang anhaltenden Schlussapplaus für das gesamte Produktionsteam mit eingeschlossen wurde.
Hans Reul