War es wirklich die Tatsache, dass Jeanne d'Arc, die Jungfrau von Orléans, lange Zeit nackt auf der Bühne zu sehen ist, die für solche Aufregung gesorgt haben soll? Man kann es sich kaum vorstellen, zumal diese Nacktheit, dieses sich von allen Zwängen Lösende in der Inszenierung von Romeo Castellucci Sinn macht. Jeanne d'Arc, die sowohl von der Kirche als auch vom Staat immer wieder vereinnahmt wurde, blickt in dem ebenso poetischen wie inhaltlich starken Text von Paul Claudel auf ihr Leben zurück.
Der Schweizer Komponist Arthur Honegger vertonte 1938 diesen Text auf kongeniale Art zu einem Klanggemälde, das sämtliche Elemente der damaligen Kompositionskunst aufweist. Manchmal erinnert Honeggers Musiksprache an hochwertige Filmmusik, dann wieder an modernes Musiktheater. Das Symphonieorchester von La Monnaie ist in Hochform und scheint sich spürbar zu freuen, dass der ehemalige Chefdirigent des Hauses Kazushi Ono für diese Produktion zurück in Brüssel ist.
Es braucht aber auch einen so großartigen Dirigenten wie Kazushi Ono, um diesen Abend musikalisch so glanzvoll zu gestalten. Die Chorakademie, der Kinderchor und sämtliche Gesangssolisten sind auf den oberen Rängen des Theaters verteilt. Welch eine Koordination ist da vonnöten, damit sich ein homogener Klang ergibt. Ono schafft dies.
Auf der Bühne sieht man, neben einigen kleinen Statistenrollen, nur die beiden Sprechpartien, Jeanne d'Arc und Frère Dominique. Aber der Reihe nach.
In den ersten gut zehn Minuten blicken wir in einen heruntergekommenen Klassenraum. Die Schulstunde geht zu Ende, die Mädchen verlassen mit ihrer Lehrerin das Zimmer und ein Hausmeister erscheint. Er räumt zunächst ganz ordentlich alles zur Seite, dann aber scheint ihn der Wahnsinn zu packen, er wirft Stühle wie Bänke auf einen Haufen, reißt die Tafel von der Wand und den Fußboden auf. Da ahnt man schon, das ist Jeanne d'Arc. Und tatsächlich verwandelt er sich in sie. Und bald steht sie in ihrer ganzen Verletzlichkeit nackt vor uns. Ein nicht sichtbares aus Tieren bestehendes Gericht entscheidet über ihr Schicksal, sie spricht mit Bruder Dominique, Kindheitserinnerungen gehen ihr durch den Kopf.
Die Schauspielerin Audrey Bonnet spielt dies mit einer atemberaubenden Intensität. Sie flüstert, sie schreit, sie kämpft mit sich und am Ende gräbt sie mit bloßen Händen ihr eigenes Grab. Sie möchte sich befreien von all den Symbolen und der Symbolhaftigkeit, die auf ihr lasten. Das ist von einer unvergleichlichen Kraft und Würde.
Mit nicht enden wollendem verdienten Applaus für alle Mitwirkenden, sei es Orchester und Dirigent, Choristen und Solisten, das gesamte Regieteam um Romeo Castellucci und nicht zuletzt die großartige Audrey Bonnet endete der Premierenabend. Bis zum 12. November steht "Jeanne d"Arc" auf dem Spielplan von La Monnaie.
Hans Reul