Stefano Mazzonis hatte schon vorab im Interview gesagt, dem Librettisten und Komponisten ging es bei Anna Bolena darum, die historisch verbürgte Geschichte wahrheitsgetreu auf die Bühne zu bringen. Also warum soll der Regisseur nicht ebenso genau den Anweisungen der Schöpfer dieser dramatischen Geschichte folgen?
Und tatsächlich gelingt Mazzonis dank der in dunklem Holz fein geschnitzten Wände und Türen sowie goldfarbenen Säulen des englischen Bühnenbildners Gary McCann und den opulenten Kostümen, die Fernando Ruiz entwarf, ein historisch genaues Bild der Zeit um 1536 auf die Bühne zu bringen.
Heinrich VIII scheint direkt dem berühmten Gemälde von Hans Holbein entsprungen zu sein, und Anne Boleyns kleine Tochter, die spätere Königin Elizabeth I, ist mit ihren roten Haaren auch gleich erkennbar. Sie darf sogar ein bisschen im Stil von Elizabeth II mit ihrem Händchen kreisend winken.
Gaetano Donizetti feierte mit "Anna Bolena" 1830 seinen internationalen Durchbruch. Es war schon die 29. Oper des damals gerade 33-jährigen Donizetti und er war auf der Höhe seiner Kunst, schrieb ergreifende lyrische Melodien und virtuos akrobatische Passagen, die den Sängerinnen und Sängern alles abverlangen. Vielleicht ist das der Grund, warum "Anna Bolena" im Vergleich zur "La Sonnambula" oder zu "L'Elisire d'amore" eher selten gegeben wird.
Die Handlung erzählt die letzten Tage von Anne Boleyn, der zweiten Ehefrau von Heinrich VIII. Aus Anne wird Anna Bolena, aus Jane Seymour Giovanna und aus Heinrich folgerichtig Enrico, aber außer den ins Italienisch übertragenen Namen ist alles historisch belegt. Um sich seiner Gattin zu entledigen, sprich sie dem Henker zuzuführen und damit frei zu sein, Giovanna zu ehelichen, die die Hofdame Annas war, entspinnt Heinrich eine Intrige, bei der Anna ihren Ex-Geliebten Percy wiedersieht, fast in flagranti erwischt wird, zudem der Liebesbeziehung zum jungen Smeton beschuldigt wird und somit ihr Schicksal besiegelt.
Eine tragische Liebesgeschichte, die sich hervorragend für eine Oper eignet. Da findet alles seinen Platz, von Liebesduetten bis hin zu dramatischen Arien der Verzweiflung, die Donizetti wie kaum ein zweiter zu komponieren verstand.
Olga Peretyatko begeistert in der Titelrolle. Peretyatko gehört zu den absoluten Stars der internationalen Opernszene und zeigt in Lüttich, warum dies so ist. Mit fein geführtem Sopran wird sie allen Anforderungen der Partitur gerecht: Da sitzt jede noch so herausfordernde Koloratur und wenn gewünscht, legt sie feinste Sanftheit in die Stimme, das ist bester Belcanto.
Als ihre Vertraute Giovanna zeigt Sofia Soloviy nach einigen leicht metallisch wirkenden Passagen, vor allem in den tieferen Lagen, im zweiten Teil des Premierenabends vorzügliche Momente. Der Bass Marko Mimica ist ein kraftvoll demagogischer und doch immer klangschöner Heinrich VIII, hingegen ließ Celso Albelo als Lord Riccardo Percy einige Wünsche offen. Sicher, es ist eine enorme Herausforderung, die Spitzentöne am Ende der Arien zu treffen, aber warum muss dann fast die Tenorfanfare herausgeholt werden?
Wieder einmal konnten auch Chor und Orchester der Lütticher Oper glänzen, dafür sorgte Dirigent Giampaolo Bisanti, ein Spezialist der italienischen Oper. Bis zum 20. April steht "Anna Bolena" auf dem Spielplan der Königlichen Oper der Wallonie. Danach geht die Produktion nach Muscat im Oman und nach Bilbao.
Hans Reul