Als Alex Ollé mit seiner Compagnie La Fura dels Baus 2011 in Brüssel "Oedipe" auf die Bühne brachte, gab Operndirektor Peter De Caluwe dem Regissuer freie Hand bei der Auswahl einer folgenden Zusammenarbeit. Ollé wusste gleich, was er vorschlagen würde: eine neue Oper ausgehend von Mary Shelleys "Frankenstein".
Er fand in dem amerikanischen Komponisten Mark Grey den perfekten Partner. Und jetzt, nach acht langen Jahren, konnte "Frankenstein" seine Uraufführung erleben. Ursprünglich sollte das Werk schon 2016 herauskommen, aber die sich hinziehenden Umbauarbeiten am Brüsseler Stammhaus verzögerten dies. Wenn man jetzt das Ergebnis sieht, versteht man, dass es unmöglich gewesen wäre, diese Produktion im Ausweichquartier der Monnaie, dem Zelt auf dem Tours-et-Taxis-Gelände, zu geben.
Diese Produktion ist eine spektakuläre, technisch brillante Bilderflut, eine nahezu cinematographische Umsetzung, die an beste Science-Fiction-Filme erinnert. Schon das erste Bild, wenn das Monster im Jahre 2816 von den Forschern einer futuristischen Station aus dem Permafrost befreit wird, kann man so schnell nicht vergessen.
Denn Alex Ollé, der Komponist Mark Grey und die Librettistin Julia Canosa I Sera haben die Handlung in die Zukunft verlegt, um dank der Vorgeschichte in der Vergangenheit - Mary Shelley schrieb ihren Roman ja genau tausend Jahr vorher, 1816 - über ganz aktuelle Problemstellungen etwa hinsichtlich Künstlicher Intelligenz zu sprechen.
Doktor Walton und seinem Team gelingt es nicht nur, die 1000 Jahre im Eis ruhende Kreatur wiederzubeleben, sondern auch deren Erinnerungen wieder wachzurufen. Davon ausgehend wird in Flash Backs die Geschichte vom Tod des jungen William mit den aktuellen Szenen vermischt. Ist das Monster von sich aus böse? Hat die Gesellschaft es böse gemacht? Ist der Schöpfer Frankenstein nicht eher das Monster? Viele Fragen, auf die nicht unbedingt Antworten gegeben werden, aber die gestellt werden müssen - denn ist alles, was möglich ist, auch ethisch vertretbar?
Man spürt den ganzen Abend über, dass Alex Ollé der Mastermind dieser Oper ist. Er hat ein Bühnenbild geschaffen, das einen in seiner Eiseskälte schauern lässt. Die Lichteffekte sind faszinierend, die Konstruktionen in ihrem technologischem Aufbau grandios. Selten war auch der Einsatz von Videoeinspielungen in einer Oper so genial wie hier. Das Team der Fura dels Baus schafft eine Räumlichkeit, die man so nur selten gesehen hat. Das ist ganz große Performance.
Mark Grey schuf dazu mit seiner Musik weit mehr als nur eine Untermalung. Es ist die erste Oper des Amerikaners, der unter anderem mit John Adams gearbeitet hat. Es gibt dann auch immer wieder Ansätze von Minimal-Music-Passagen, repetitive Momente, die aber präzise dem Charakter der Handlung entsprechen. Grey schreibt, wenn auch sehr fordernd, hervorragend für die Sänger.
Da ragen vor allem Scott Hendricks als Frankenstein mit kraftvollem, aber nie überdeckendem Bariton und der Tenor Topi Lehtipuu in der Rolle des Monsters heraus. Bei ihm ist nicht nur die sängerische Leistung, sondern mindestens in gleichem Maße das rein körperliche Engagement hervorzuheben.
Aber auch die kleineren Partien sind adäquat besetzt. So etwa ist die junge belgische Sopranistin Hendrickje Van Kerckhove als Justine in ihrer Zartheit und Verzweiflung für sich einnehmend. Wen wundert es, sie wird nicht nur zu Unrecht des Mordes an dem jungen William angeklagt, sondern stirbt sogar am Galgen.
Das Orchester und der Chor der Brüsseler Oper La Monnaie sind unter der Gesamtleitung von Bassem Akiki ständig auf der Höhe der Partitur. Einziges Manko der Produktion ist vielleicht das Libretto, das ein bisschen zu viel Pathos beinhaltet und dem auch einige Striche nicht geschadet hätten, um den Abend noch konziser zu machen. Aber dies ist nur eine Randbemerkung zu einer großen spektakulären Uraufführung, die mit Sicherheit auch einem jungen Publikum den Weg zur Oper ebnen kann.
Bis zum 20. März steht "Frankenstein" auf dem Spielplan von La Monnaie.
Hans Reul