Eine alte Dame mit einem Neugeborenen im Arm: Sie wirken seltsam lebendig und tot zugleich. Die lebensechte Skulptur scheint an Madame Tussaud zu erinnern. Bis ins kleinste Detail sind Körperform, Haut und Haar naturgetreu nachgebildet.
Doch der Hyperrealismus ist alles andere als ein Wachsfigurenkabinett, betont François Henrard von der Agentur Tempora, die die Ausstellung konzipiert hat: "Tussauds Wachsfiguren wollen nur so gut wie möglich kopieren. Hier handelt es sich wirklich um Kunstwerke mit einer Aussage. Manche Künstler üben Sozialkritik, manche haben eine politische Botschaft. Anderen geht es um das rein Menschliche. Sie wollen Empfindungen und Gefühle transportieren."
Die Künstler des Hyperrealismus konfrontieren den Besucher mit der Realität wie der Däne Peter Land, der sich im Selbstporträt als Obdachlosen darstellt. Ein Werk von 2015. Angefangen hat die Bewegung in den 1960er Jahren. Die Ausstellung im Museum "La Boverie" zeigt die Entwicklung der Kunstrichtung bis in die heutige Zeit: "Es beginnt mit den Pionieren wie Duane Hanson oder John Deandrea und Künstlern, die sie beeinflusst haben, wie George Segal. Die Bewegung existiert zwar als solche nicht mehr. Aber ihre Techniken sind noch aktuell. Es gibt große zeitgenössische Künstler, die diese Techniken noch anwenden - aber viel moderner und innovativer."
Mehr als 30 Künstler repräsentiert die Ausstellung. Viele kommen aus dem englischsprachigen Raum. Ihre Werke zeigen die Vielfalt des Hyperrealismus, der die Kunst bis heute beeinflusst: "Die Techniken sind sehr verschieden. Am Anfang der Bewegung in den 1970er Jahren gab es noch nicht die modernen Materialien wie heute. Es waren vor allem Bronze-Skulpturen, die dann mit mehreren Schichten Öl bemalt wurden, um diesen Haut-Effekt zu haben. Heute haben wir Polyester, Harz, Glasfaser oder Silikon. Jeder Künstler hat sein eigenes Rezept."
Es geht aber nicht nur um technische Präzision und nahezu perfekte Illusion. Die zeitgenössischen Künstler greifen auch die veränderte Sichtweise auf den menschlichen Körper auf. Bei den jüngeren Werken geht es um Themen wie Genmanipulation, virtuelle Realität und verzerrte Wahrnehmung: "Im Zentrum der Ausstellung steht der menschliche Körper. Somit sind wir alle von dem Thema betroffen. Die Kunstwerke halten uns sozusagen einen Spiegel vor. Und weil diese Darstellung so hyperrealistisch ist, sind wir so fasziniert, manchmal auch irritiert oder sogar schockiert."
Bereits in der ersten Woche nach der Eröffnung haben über 4.000 Menschen die Ausstellung gesehen. Bis zum 3. Mai erwartet das Museum "La Boverie" noch viele Besucher. Auf Anfrage gibt es auch Gruppenführungen auf Deutsch.
Michaela Brück