Die Handlung des Romans beginnt im Jahr 2030. Der Ich-Erzähler, ein 29-jähriger Deutscher, befindet sich mit seinem älteren Freund in Ostende. Wenig später kehren sie nach Brüssel zurück, wo beide wohnen und wo auch die Handlung des Romans hauptsächlich spielt.
Zwischendurch fahren die beiden in die Berge von Norditalien, bevor zumindest der Ich-Erzähler wieder nach Brüssel zurückkehrt.
Problematische Beziehung, zersplitterte Gesellschaft
Inhaltlich geht es in dem Roman zum einen um die nicht ganz unproblematische Beziehung zwischen diesen beiden jungen Männern. Ihre Homosexualität spielt dabei keine große Rolle, sondern verhandelt wird vielmehr die Frage, wie zwei Menschen, die sich eigentlich lieben, aber doch verschieden sind, gut miteinander auskommen können.
Zum anderen geht es in dem Roman um die Zersplitterung der Gesellschaft auf der Suche nach einer anderen, lebenswerteren Zukunft. Der Roman spielt quasi in einem Zwischenzustand, in dem sich einige Tendenzen von heute schon weiterentwickelt haben, Einzelne und auch ganze Gruppen sich nach neuen Lebensformen sehnen und sie teilweise ausprobieren.
Revolte im Schatten des Europaparlaments
In Norditalien, wo die Protagonisten hinreisen, kontrolliert zum Beispiel das Militär den öffentlichen Raum, gibt es Homelands für moderne Sklaven aus Indien, eine gewaltbereite Widerstands-Bewegung. In Brüssel wird zunächst von einem Aufstand in Anderlecht berichtet. Und dann findet eine Revolte auch im Schatten des Europaparlaments statt.
Der Roman wird dadurch zu einer Auseinandersetzung mit zahlreichen gesellschafts-politischen Strömungen unserer aktuellen Gegenwart. Es geht um die Folgen von Kolonialismus, um Cancel-Culture, die Rückbesinnung auf die Vergangenheit, die Verklärung der Antike und des Mittelalters, die Sehnsucht nach einfacheren Lebensformen und die Flucht in die Natur, aber auch in virtuelle Lebenswelten, die in Online-Spielen gesucht wird.
Vielschichtig, aber flüssig zu lesen
Das klingt vielschichtig und ist es auch, trotzdem liest sich der Roman gut und flüssig. Der Autor, der deutsche Schriftsteller Marius Goldhorn, benutzt meist sehr kurze Sätze, die an sich einfach zu verstehen sind.
Allerdings muss der Leser darauf gefasst sein, dass nicht immer alles in der Handlung bis ins kleinste Detail erklärt wird. Vieles erschließt sich beim Lesen erst nach und nach, manchmal überhaupt nicht. Viele Anspielungen auf Künstler, Theorien oder vermeintlich bekannte Personen werden gemacht, die nicht jedem bekannt sein dürften. Was aber den Lesegenuss, wenn überhaupt, dann nur ein wenig trüben dürfte.
Brüssel als gute Wahl der Handlung
Brüssel als Ort der Haupthandlung ist eine gute Wahl für die Themen, die der Roman behandelt. Schon heute bietet Brüssel als Großstadt viele Möglichkeiten des Lebens, werden hier nicht zuletzt durch die Multi-Kulti-Gesellschaft, das Nebeneinander von Öko-Bewegungen und konservativen Milieus, dem Sitz von EU und Nato viele verschiedene Lebensbereiche gelebt, deren Co-Existenz in dem Roman in einer Zukunftsvision weiterentwickelt werden.
Wer Brüssel als Stadt kennt, wird zudem seine Freude haben, immer wieder zu bekannten Orten und Plätzen der Stadt geführt zu werden. Ob Molenbeek, Saint-Gilles oder der Leopold-Park, ob bekannte Bäckerei-Ketten, Supermärkte, die Porte de Hal, der Nordbahnhof, Cafés, Bars, Museen und andere Eigenarten der Stadt - das alles wird so geschildert, wie es in Brüssel tatsächlich auch zu erleben ist.
Angaben zum Buch
Marius Goldhorn
"Die Prozesse"
Köln 2025
Verlag Kiepenheuer & Witsch
288 Seiten
23 Euro
Kay Wagner