Der ostbelgische Leser erkennt sich gleich wieder in den Geschichten, die Maryanne Becker über die Kriegs- und Nachkriegszeit im Grenzland erzählt, sei es aus eigenem Erleben, sei es aus den vielen Erzählungen, die so oder so ähnlich in der eigenen Familie überliefert wurden.
"Familiengeschichte ist eigentlich nur 'Grenzlandfrau'", erklärt Maryanne Becker, wie sie den Stoff für ihre Bücher entwickelt. "Die anderen Geschichten sind als Romane und als Familiengeschichten aufgebaut. Also zum Beispiel 'Die Flickschneiderin' ist im Prinzip ein Buch mit drei verschiedenen Bänden, die auch alleine gelesen werden können. Da geht es auch als Aufhänger um eine Familie, um eine Großfamilie. Aber das hat nichts mit der Realität zu tun. Das ist weder mir noch mir bekannten Personen passiert."
Am interessantesten ist, aus welcher Perspektive diese Geschichten erzählt werden. Es ist immer die Perspektive von Frauen, die mit den Umständen zurecht kommen müssen, die oft mehrere Kinder alleine großziehen, die ihre Lebensträume zerstieben sehen, die gegen patriarchalische Strukturen und gesellschaftliche Zwänge aufbegehren.
"Wenn man sich einfach Frauen im Zweiten Weltkrieg anschaut oder gerade hier in der Gegend, wo viele viele Männer an die Front geholt wurden und nur wenige zurückkamen: Da wurde nicht gefragt, ob sie stark sind oder selbstbewusst. Sie mussten das sein. Und so sieht man, wenn man genau hinguckt, dass Frauen nicht weniger stark sind als Männer. Männer haben mehr Muskelmasse, ja. Aber starke Frauen, das für mich einfach ein selbstverständliches Frauenbild. Und ich sage jetzt mal: die armen, schwachen Mäuschen, die gibt es nur in Arztromanen."
Maryanne Becker ist Jahrgang 1952. Das erklärt, warum sie sich immer wieder mit der Generation der Nachkriegskinder auseinandersetzt. "Das hat natürlich damit zu tun, dass ich als Nachkriegskind hier in Ostbelgien aufgewachsen bin. In der Familie gab es fast keine Männer mehr. Sie waren alle tot oder zumindest stark verletzt und verwundet vom Krieg. Dann habe ich Geschichte studiert, und zwar im Wesentlichen neuere Wirtschafts- und Sozialgeschichte, und habe auch meine Examina über bestimmte Aspekte des Zweiten Weltkriegs oder der Nazizeit gemacht. Und ich habe das zu Hause quasi zwar nicht mit der Muttermilch, aber mit frischer Kuhmilch aufgesogen."
Insofern wundert es nicht, dass Maryanne Becker in die jüngst erschienene Anthologie deutscher Literatur aus Ostbelgien mit einer Kurzgeschichte aufgenommen wurde, in der es um den Holocaust geht, beziehungsweise wie damit in der Nachkriegszeit umgegangen wurde. Eine von vielen Facetten in der Anthologie, aus der sie in Hauset lesen wird. Insgesamt sind 19 Schriftsteller und Künstler im Heft Nr. 24 der Schriftenreihe "Rhein!" versammelt:
"Ich kann nicht sagen, dass mir alle Geschichten gleich gut gefallen. Aber dafür, wie das zustande gekommen ist, finde ich es eine hervorragende Arbeit", lobt Maryanne Becker die Initiative der beiden Herausgeber Kurt Roessler und Rolf Stolz.
"Das Buch hat ein sehr schönes Cover. Es ist handlich, es ist sehr gut geschrieben, gut gelayoutet. Von daher finde ich es ganz toll. Ich weiß nicht, ob das sich jetzt in der großen weiten Welt verbreitet. Also wenn ich erzähle: 'Ich komme aus Ostbelgien', dann zucken die Leute in Berlin die Schultern und sagen: 'Spricht man da Belgisch?'"
An diesem Samstag (20. Juli, 19 Uhr) liest Maryanne Becker im Kreativen Atelier Regenbogen in Hauset aus ihren Geschichten und aus der Anthologie deutscher Literatur aus Ostbelgien.
Stephan Pesch
Danke für diesen Beitrag.
Literatur hat einen festen Platz in der BRF-Berichterstattung.
Das freut mich sehr.
Johannes Weber