"Lo, wer hat getötet? Der Extremismus der Hutus, erklären sie. Der Extremismus der Hutus existiert nicht. Das ist ein Konzept. Um das Verbrechen zu begreifen. Eine prophylaktische Politik der Rassenentgiftung für die Massen zu entwerfen. Wirklich vorhanden ist der ganz normale Mensch. Der Bürger. Derjenige, den man identifizieren kann. Sein Körper, den man anfassen kann …"
In einer fiktiven Szene lässt Dominique Celis die Hauptfigur ihres Romans über Dinge nachdenken, die immer noch, fast 30 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda, die Menschen dort, in Belgiens ehemaliger afrikanischer Kolonie, beschäftigen.
Zur Erinnerung und sehr vereinfacht ausgedrückt: Im Frühjahr 1994 hatte in Ruanda die Bevölkerungsgruppe der Hutus versucht, die Minderheit der Tutsi systematisch zu vernichten. Innerhalb von drei Monaten wurden rund 800.000 Menschen zum Teil brutal ermordet, bevor bewaffnete Tutsi vom Nachbarland Uganda aus dem Morden ein Ende bereiteten. Der aktuelle Präsident von Ruanda, Paul Kagame, nahm damals an den Kämpfen teil. Statt Rache verordnete er seinem Land die Aufarbeitung des Völkermordes, Versöhnung und eine Erinnerungskultur.
Vor diesem Hintergrund spielt der Roman von Celis. Eine gewisse Erika schreibt im Jahr 2018 Briefe an ihre Schwester in Belgien. Erika selbst war 2013 als Tochter eines Belgiers und einer Mutter aus der Bevölkerungsgruppe der Tutsi zurück nach Ruanda gezogen. Ihre Briefe dienen vor allem dazu, eine Liebesbeziehung zu einem ehemaligen Tutsi-Kämpfer aufzuarbeiten.
Abbild der ruandischen Gesellschaft
Warum dieses Szenario? "Ich habe mir eine Frage gestellt", antwortet Celis. "Und die Frage war: Ist es nach einem Völkermord, und hier ganz speziell der Völkermord an den Tutsi, noch möglich zu lieben? Auch sich selbst zu lieben?"
Bewusst hat Celis also keinen weiteren Roman über den Völkermord selbst geschrieben. Als erster "Post-Völkermord-Roman" über Ruanda ist ihr Werk deshalb auch schon bezeichnet worden. "Ich wollte zeigen, welchen Einfluss die kollektive Geschichte des Völkermordes auf das individuelle Leben hat", sagt Celis selbst.
Der Roman wird damit zu einem Abbild der aktuellen Gesellschaft in Ruanda. Der Leser entdeckt Menschen, die zerrissen sind. Die von einem unbedingten Willen getrieben werden, im Hier und Jetzt zu leben, hoffnungsvoll und tatendurstig nach vorne schauen, dabei aber immer wieder heimgesucht werden von den Schatten der grausamen eigenen Vergangenheit.
Frage der Entmenschlichung
Ein Thema, das laut Celis jeden interessieren sollte. "Denn ein Völkermord ist eine universelle Frage. Das ist nicht nur eine belgisch-ruandische Angelegenheit und interessiert nicht nur mich, weil ich sowohl belgisch als auch ruandisch bin. Sondern es geht ganz allgemein um die Frage der Entmenschlichung. Was macht die Entmenschlichung mit dem Körper, mit dem Herz?"
Eine Frage, die angesichts des russisch-ukrainischen Kriegs vor den Toren von Europa auch hier wieder aktuell wird. Wie soll Versöhnung nach so einem Krieg möglich sein? Wenn so viel Leid zugefügt wird, das Menschen tief trifft?
In Ruanda wird diese Frage auf die Spitze getrieben. In dem kleinen Land leben Mörder und Überlebende auf engstem Raum miteinander.
Was passiert mit einem, wenn man weiß, dass der Nachbar zu den Mördern der eigenen Eltern gehört hat? Es erwiesen ist, dass der sympathische Trainer im Fitness-Studio Teil des mordenden Mobs war? Der Mann, den man liebt, nicht mehr lieben kann, weil in ihm nur noch eine Leere herrscht, die Leere dessen, der getötet hat und seine Familie nicht hat schützen können?
Bei viel Bier, viel Gelächter aber auch tiefer Verzweiflung werden diese Fragen in Celis Roman von ihren Protagonisten erörtert, durchdekliniert und – beantwortet? Das muss jeder Leser selbst entscheiden am Ende der knapp 280-seitigen Reise durch das gesellschaftliche Befinden der Ruander von heute; am Ende eines erhellenden, aber auch nachdenklich stimmenden Lesevergnügens.
Der Roman "Ainsi pleurent nos hommes" (etwa: "So weinen unsere Männer") ist im Pariser Verlag Philippe Rey erschienen. Auf deutsch liegt der Roman bislang noch nicht vor.
Kay Wagner