Mai 1940. In Malmedy schaut ein Mädchen auf den Schultern seines Vaters zu, wie deutsche Soldaten vorrücken:
Sie war gerade dreizehn Jahre alt geworden. Noch nicht junges Mädchen, nicht mehr ganz Kind. Vor vier Wochen hatte sie Geburtstag gefeiert, ohne Prunk und ohne Tusch, aber mit überschwänglich zugewandten Eltern. In der Unschuld jenes Alters, in dem alle Möglichkeiten zum Greifen nah sind, jedoch allzu bald am Galgen des Schicksals baumeln sollten! (Auszug aus Lily, S. 11)
Zu jener Zeit sind in der ehemals preußischen Kreisstadt Malmedy die Übergänge fließend zwischen Französisch, Deutsch, Wallonisch … was im Original des Buches sehr schön rüberkommt. In der deutschen Fassung wird dieses Mit- und Nebeneinander durch graphische Hilfsmittel wie Kursivschrift dargestellt, erklärt der Autor Ronald Goffart.
Mit der Annexion durch Hitler-Deutschland schlägt das Verhältnis um in Schikane, in Verdächtigungen, in Misstrauen. Es war dieser Aspekt, der den Verleger Arne Houben vom Rhein-Mosel-Verlag überzeugte, das Buch in deutscher Sprache zu veröffentlichen. "Ich finde immer interessant, wenn Dinge erzählt werden, die nicht genau dem Klischee entsprechen. Sie erlebt in Malmedy die Minderheit der Deutschsprachigen innerhalb einer frankophonen Gesellschaft."
Eine kulturelle Minderheit, die plötzlich zur dominierenden Kultur des Eindringlings wird, mit allen Abgründen: von drohender Einberufung der Männer über den obligatorischen Landdienst bis zur Hitlerjugend.
Geblümtes Kleid, Kopftuch, Schürze um Hals und Taille, das Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten: Aus Lily war ein echtes BDM-Mädel geworden! Dennoch blieb sie nach wie vor ein Kind - ein Kind, das die Aufgaben Erwachsener zu erfüllen hatte. (Auszug aus Lily, Seite 44)
Machen erst noch das Heimweh oder ein Verbot des Malmedyer Karnevals dem jungen Mädchen zu schaffen, erlebt es bei einem Besuch im zerbombten Aachen die grausame Realität des Krieges:
Lily fühlte sich peinlich berührt, als sie durch dieses makabre Gewirr hindurchging. Am liebsten wäre sie weinend davongerannt. Wie sollte sie angesichts der verstörten obdachlos gewordenen Einwohner, die ihr begegneten, noch Aufmerksamkeit aufbringen für die Belanglosigkeiten, deretwegen sie die verwüsteten Wohnviertel durchquerte? (Auszug aus Lily, S. 63)
Mit der näher rückenden Befreiung Malmedys durch die Alliierten sieht sich die deutschstämmige Familie neuen Ängsten und Propaganda-Gerüchten ausgesetzt - sie flieht nach Mitteldeutschland und überlebt dort das Kriegsende:
Erfurt in der Abendsonne hörte nicht zu brennen auf! Bevor es am 12. April den Amerikanern in die Hände fiel. Am Todestag ihres Präsidenten, an dem Tag, als Himmler befahl, alle Städte bis zum Äußersten zu verteidigen und zu halten. Lily war soeben achtzehn geworden. (Auszug aus Lily, S. 126)
Da ist die Heimatstadt schon dreimal irrtümlich von den Befreiern bombardiert worden, das eigene Zuhause zerstört. Und auf die Rückkehrer wartet die Haft wegen des Vorwurfs der Kollaboration. Die junge Lily findet aber wie viele andere wieder in ein mehr oder weniger normales Leben zurück. Die Kriegserlebnisse soll sie ihrem Enkel erst viele Jahre später auf dessen Drängen erzählen.
Ronald Goffart erinnert sich an so ein Gespräch auf der Terrasse des Eupener Talsperren-Restaurants: "Das war der Tag, an dem sie begriffen hat, dass ich aus all diesen Erinnerungen ein Buch machen würde. Ich habe ihr anvertraut: 'Siehst du, alles, was du so schmerzhaft erlebt hast, hat sich doch gelohnt!' Und als wir die Terrasse verließen, hatte sie Tränen in den Augen."
Lily Pierry, die noch die Veröffentlichung der Originalausgabe erlebt hatte, ist im vergangenen Jahr im Alter von 94 Jahren gestorben. So wie wir sie kennengelernt haben, wäre sie zweifellos stolz gewesen auf die Hartnäckigkeit, mit der ihr Enkel die Herausgabe einer deutschen Fassung verfolgt hat.
Das Buch "Lily. Eine beschlagnahmte Jugend in annektiertem Land" ist im Rhein-Mosel-Verlag erschienen.
Stephan Pesch