Die Geschichte von "Spirou oder: die Hoffnung" beginnt mit einer Zugreise im Sommer 1942. Der Junge Spirou ist mit zwei kleinen Kindern unterwegs, um die er sich kümmert. Alle Mitreisenden um ihn herum tragen den gelben Stern als Aufnäher auf ihrer Kleidung. Der Zug startete in der Dossin-Kaserne, ein Sammellager der SS in Mechelen, in der die deutschen Besatzer jüdische Menschen eingesperrt hatten. Wohin fährt der Zug wohl, fragt einer der Mitreisenden. In irgendein Arbeitslager rufen andere. Auch als der Name Auschwitz fällt, kann keiner damit etwas anfangen. Nur der Leser ahnt das kommende Grauen.
Doch Spirou ist misstrauisch, er nimmt ein kleines Taschenmesser, knackt die verschlossenen Zugfenster auf, und springt mit den beiden Kindern aus dem fahrenden Zug. So wie es damals in Belgien auch in Wirklichkeit einige Menschen taten. Er findet Zuflucht bei Freunden auf dem Land. Dort trifft er auch das Mädchen Mieke. Ihr Vater ist im Krieg und auch die Mutter ist seit der Bombardierung von Löwen verschollen. Sie würde am liebsten in den Kampf gegen die Nazis ziehen. Er erzählt ihr im Wald, was passiert ist:
"Mieke: Und mit dem Messer hast du einen Deutschen getötet? Spirou: Was? Deutsche töten?! Mein Gott, nein! Ich hab ein Fenster damit aufgekriegt für die Flucht aus dem Zug… Mieke: Ach… Na auch gut. Spirou: Er fuhr, als wir gesprungen sind. Das war riskant, weißt du. Mieke: Spar dir bitte die Prahlerei, wir sind im Krieg! Tausende gehen täglich Risiken ein und lassen ihr Leben für unsere Freiheit! Du hast dich in die Höhle des Löwen gewagt. Gut, dass du wieder raus bist, und fertig. Spirou: 'In die Höhle des Löwen gewagt'? Aber Mieke, ich musste doch die Kinder befreien! Mieke: Und ich spreche von der Befreiung Belgiens!"
Auch wenn Mieke gern zu den Waffen greifen möchte, als Hitlerdeutschland in Belgien einmarschiert, ist der Widerstand anders als in Frankreich. Es ist nicht so sehr der Patriot, der handelt. Es gab neben einem bewaffneten Widerstand viele alltägliche Aktionen, die ohne viel Aufhebens stattfanden. In die Züge wurden Brechstangen unter dem Stroh versteckt, damit sich die Gefangenen befreien können, Züge nach Auschwitz wurden aufgebrochen und die Insassen befreit oder Lebensmittel an versteckte Menschen verteilt.
Auf diese Weise trifft Spirou auch auf den jüdischen Maler Felix Nussbaum und seine Frau Felka Platek, die ihm die politische Lage bewusst machen. Spirou war bislang ein einfacher Charakter ohne besondere Bedeutung. Er ist sehr clever, aber die Begegnung mit dem Maler verändert ihn.
Emile Bravo hat intensiv recherchiert und viele Augenzeugenberichte gelesen. Von Felix Nussbaum ist er besonders beeindruckt, wie er das Grauen in seinen Bildern regelrecht fühlbar macht. Bravo beschreibt aber auch das Dilemma einen Comic darüber zu machen: "Ich begann an meiner Geschichte zu schreiben und ich dachte nach. Denn ich wollte über die Shoah schreiben. Aber ich wusste nicht wie. Weil es eigentlich unmöglich ist. Und es ist noch unmöglicher, sie Kindern zu zeigen, weil es hier um Comics geht und es ist so schrecklich, was damals geschah. Als ich Felix Nussbaum begegnete, sagte ich zu mir, dieser Mensch lebte in Brüssel und dieser Mensch malte all diese Angst".
Darf man Comics über den Holocaust machen? Indem sogar der Humor nicht vergessen wird? Der Erste, der dies wagte, war Art Spiegelmann, der die Geschichte seiner jüdischen Familie in dem schwarz-weiß gezeichneten Comic "Maus - die Geschichte eines Überlebenden" erzählte. Er zählt inzwischen zu einer der besten Graphic Novels.
Auch Emile Bravo ist ein Ausnahme-Comic gelungen. Zwar zeigt er nicht direkt die Konzentrationslager, aber die Menschen, die verzweifelt aus den Zügen schauen, als sie nach Auschwitz transportiert werden, machen das Grauen auch so fühlbar.
Bravo stellt sich auch grundsätzliche philosophische Fragen. Darf man Menschen töten, die so grausam wie die SS-Männer sind? Spirou meint nein, als ein Zug mit SS-Männern in die Luft gesprengt werden soll. Er findet andere Formen des Widerstandes. Auch wenn er das Leben von Felix Nussbaum und seiner Frau letztendlich nicht retten kann. Denn das ist keine Fiktion. Beide wurden in Auschwitz ermordet.
Emile Bravo ist nicht nur ein meisterhafter und grandioser Comic gelungen, der unterhaltsam und lehrreich ist und absolut für Kinder geeignet. Er schildert Abenteuer, vergisst nicht den Humor, die historischen Fakten hat er gründlich recherchiert und macht diesen Teil der belgischen Geschichte nachfühlbar.
Die letzten noch lebenden Opfer des Holocaust sagten, es gehe ihnen nicht mehr um Schuld oder Rache. Nur eines wäre ihnen überaus wichtig: Diese Verbrechen gegen Menschen dürfen niemals vergessen werden. Emile Bravo und der Carlsen Verlag haben diese Mahnung auf die beste Weise umgesetzt.
Buchdetails
Emile Bravo: "Spirou oder: die Hoffnung"
erschienen im Carlsen-Verlag
Teil 1: ISBN: 978-3-551-77656-3 (Preis: 14 Euro)
Teil 2: ISBN: 978-3-551-77638-9 (Preis: 14 Euro)
Teil 3: ISBN: 978-3-551-776402 (Preis: 16 Euro)
Letzter Teil 4 erscheint demnächst.
Katja Maria Engel / https://www.fng-os.de/projekte/spirou/