"Das Dorf Stoumont, das fünfundzwanzig Kilometer von Banneux entfernt lag, war zu ihrem Refugium bestimmt worden", so ein Auszug aus dem Buch "Schattenkinder". "Nach fünfeinhalb Stunden waren sie am Ziel: Das Dorf lag auf einer Hochebene zwischen einem Flusstal und den Ausläufern des Hohen Venns. Im Windschatten einer Kirche aus Naturstein duckten sich kleine Bauernhäuser, deren Stroh- oder Schieferdächer fast bis auf den Boden reichten." (Auszug aus "Schattenkinder", Seite 196)
In der kleinen Ardennenortschaft Stoumont hat sich Marcel Bauer unter anderem mit der Hilfe von Jean-Pierre Dumont auf die Suche nach Spuren gemacht - Spuren einer häufig vergessenen Geschichte: "Während des Zweiten Weltkrieges gab es in Belgien über 30.000 jüdische Kinder, die von der Zivilbevölkerung versteckt wurden. Die Kirche hat ein ganzes Netzwerk aufgebaut, wo solche Kinder versteckt wurden und damit dem Holocaust entkamen", sagt Autor Marcel Bauer. "Ich bin der Spur eines dieser Kinder gefolgt, von Seraing über Lüttich bis hierher nach Stoumont. Dieser Junge ist in der Ferienkolonie des Abbé Marcel Stenne gelandet und hat hier den Krieg überlebt."
Neue Identität für jüdische Kinder
Als "Gerechter unter den Völkern" wurde der Landpfarrer Marcel Stenne erst 1990 geehrt, 20 Jahre nach seinem Tod. Marcel Bauer beschreibt in seinem Roman wie das kirchliche Netzwerk funktionierte - inklusive neuer Identität. Auch das wird im Roman beschrieben: "Die Namensgebung fiel kurz und bündig aus. 'Menahim Rozenberg', sagte der Wortführer feierlich: 'Von nun an wirst du Thonnar heißen, Jean-Marie Thonnar.' Dann wandte er sich an Joshua: 'Und du heißt ab heute Pierre, Pierre Thonnar.'" (Auszug aus "Schattenkinder", Seite 190)
"Diese Kinder bekamen alle eine neue Identität, neue Namen, wurden auch getauft und christlich erzogen", erklärt Marcel Bauer. "In Wirklichkeit wusste hier im Dorf jeder, dass hier bei den Schwestern und beim Pfarrer 30 bis 40 jüdische Kinder versteckt wurden. Und das eigentlich Wunderbare ist: Niemand im Dorf hat sie verraten."
Schauplatz der Ardennenoffensive
Verraten wurden die Kinder auch nicht, als im Dezember 1944 die Ardennenoffensive über die Gegend hereinbrach, so der Autor: "Zufällig nahm die deutsche Panzerarmee den Weg über diese Höhen in Richtung Maas. Damit hatte niemand gerechnet, auch die Bevölkerung nicht. Die war völlig überrascht und versteckte sich, wo sie konnte: In Stallungen, in Kellern, in der Kirche."
Das Ereignis war am 18. Dezember 1944 - einem Montag, weiß Jean-Pierre Dumont. Bis Freitagvormittag sollten mehr als 120 Menschen im Keller unter der Hubertuskirche Schutz suchen – in ständiger Angst und unter armseligsten Verhältnissen: "Die Leute wussten ja nicht, was mit ihnen geschehen würde, wie sie die Zeit überstehen sollten, diese Tage und Nächte. Also hat Abbé Stenne die Dinge, so gut es ging, in die Hände genommen", erzählt Dumont.
"Die Festung"
Ein paar hundert Meter von der Kirche entfernt liegt das Erholungsheim St. Edouard, das während des Krieges von Vinzentinerinnen geführt wurde. "Die Deutschen nannten das Gebäude die 'Festung', kaum dass sie sich hier installiert hatten. Es ist wirklich ein beeindruckendes Gebäude, oberhalb der Straße gut sichtbar, und es wurde wechselweise mal von den einen, mal von den anderen in Beschlag genommen", so Dumont.
Während oben im Gebäude die Granaten einschlugen und der Kampf Mann gegen Mann tobte, harrten auch hier im Keller viele Schutzsuchende aus – zwischen verletzten amerikanischen und deutschen Soldaten. Auch das erzählt der Roman: "Der Keller, den sie betreten, gleicht dem Hades, den Pierre aus Beschreibungen in den griechischen Sagen kennt. Es ist die Unterwelt mit all ihren Schrecken. Seit Tagen haben die Eingeschlossenen das Tageslicht nicht mehr gesehen. Sie hocken dicht gedrängt in ständiger Dunkelheit, sind durchnässt, unterkühlt, hungrig und durstig. Manche lecken aus schierer Verzweiflung das Regenwasser ab, das von der Decke tröpfelt und die Wände hinunter rinnt." (Auszug aus "Schattenkinder", Seite 373)
"In diesem Keller waren auch viele Kinder, die schon vorher in diesem Gebäude waren. Zusammen suchten hier mehr als 200 Menschen Schutz, auch Einwohner aus dem Dorf. Den ganzen Flur entlang lagen die Matratzen. Und die Leute beteten unentwegt den Rosenkranz", sagt Jean-Pierre Dumont.
"Wunder von Stoumont"
Die Geschichte von Joshua Rozenberg alias Pierre Thonnard gibt dem Autor Marcel Bauer die Gelegenheit, detailliert auf die Ardennenoffensive einzugehen. Erwähnt werden auch die Flüchtlinge, die es aus den deutschsprachigen Ostkantonen nach Stoumont verschlagen hatte.
Von dieser Warte aus gesehen ist es Marcel Bauer wichtig, darauf hinzuweisen, welche Bedeutung die Kampfhandlungen in Stoumont und dem Nachbarort La Gleize für den Fortgang der Geschichte hatten: "Die Ardennenschlacht war der letzte Versuch Hitlers, noch einmal die Wende an der Westfront herbeizuführen. Das ist aber vollkommen gescheitert. Er hat hier eine großartige Panzerschlacht geplant - in einem Gelände, das dafür gar nicht geeignet war: Hügelig, voller Wälder, undurchdringlich. Daran ist er letzten Ende gescheitert wie auch am Mangel an Benzin und Ressourcen."
Aber noch aus einem ganz anderen Grund spricht Marcel Bauer in seinem Buch vom "Wunder von Stoumont": "Damit meine ich eben die Zivilcourage der Bevölkerung, die nichts auf diese Kinder hat kommen lassen und dafür gesorgt hat, dass sie überleben konnten."
"Schattenkinder" von Marcel Bauer ist im Rhein-Mosel-Verlag erschienen.
420 Seiten
ISBN 978-3-89801-437-3
Preis: 13,50€
"Schattenkinder": Marcel Bauer hat eine jüdische Familiensaga geschrieben
Stephan Pesch
Marcel Bauer hat gut recherchiert und wirklich einen spannenden Roman geschrieben. Prima.