Gerlinda Swillen, geboren 1942, ist ihrem leiblichen Vater nie begegnet: Er war ein deutscher Wehrmachtssoldat, der ihre Mutter, eine belgische Kindergärtnerin, während der Besatzung kennenlernte.
"Ich habe immer gefühlt, dass ich nicht das Kind meiner Eltern war. Anfangs wurde ich von meinen Großeltern in Ostende erzogen und trug den Familiennamen meines Großvaters. Und mein Onkel war nur zwei Jahre älter als ich, also wie ein Bruder für mich", erzählt die 77-Jährige im BRF-Gespräch.
"Aber als ich vier wurde, wurde ich von Swillen anerkannt, als er meine Mutter heiratete. Und ich sollte die vier Jahre vorher vergessen …"
Immer noch ein Tabu
Erst viel später hat sie den Namen ihres leiblichen Vaters, ihres Erzeugers, erfahren. "Es war Pfingsten 2007. Ich sage immer: Vielleicht ist der Heilige Geist auf uns herabgefahren", lacht Gerlinda Swillen, die mit der katholischen Kirche nicht viel am Hut hat.
Ausgehend von ihrer persönlichen Erfahrung hat die frühere Lehrerin wissenschaftlich die Geschichte der Kriegskinder erforscht, so unter anderem auch in Ostbelgien. Hier hatte Gerlinda Swillen vor einigen Jahren dazu aufgerufen, sich zu melden.
"Ostbelgien war viel langsamer. Ich fühlte, dass hier das Tabu viel größer war. Alle ostbelgischen Zeugen haben darum gebeten, anonym bleiben zu können, während meine Gewährspersonen in 'Altbelgien' sagten: 'Ach, wir sind nicht mehr so jung, das darf man jetzt ruhig wissen. Wir wollen nicht mehr schweigen'."
Gerlinda Swillen unterscheidet ausdrücklich zwischen Kriegskindern im engeren und im weiteren Sinne: "In den Fällen, die ich erforscht habe, wären sich die Erzeuger ohne den Krieg gar nicht begegnet."
Die fehlende Hälfte
Allen Kriegskindern gemeinsam sei die Frage nach der eigenen Identität, stellt Gelinda Swillen fest: "Alle wollen über ihre Herkunft Bescheid wissen. Einer hat es auf die schöne Formel gebracht: 'Es ist die Hälfte unseres Seins, die wir nie kennen werden'. Das stammt von einem Kind, das im sogenannten Lebensborn in Wégimont geboren wurde."
Keine Rolle spielt in der gesellschaftlichen Wahrnehmung, ob die Kriegskinder von deutschen Wehrmachtssoldaten oder (ab 1944) von amerikanischen G.I.s gezeugt wurden. Ihre Schicksale hat Gerlinda Swillen zum ersten Mal in einer gemeinsamen Studie gegenübergestellt: "Das Tabu ist dasselbe. Das Gefühl, nicht dazu zu gehören, ein - wie es hieß: 'Bastard' zu sein."
Die ablehnende Reaktion kam aus dem Umfeld, zum Teil aus der Familie der Mutter. Und nicht nur: "In ganz Belgien gab es die Macht der Kirche", sagt Gerlinda Swillen. Bis in die 80er Jahre habe der Unterschied zwischen ehelichen und unehelichen Kindern eine Rolle gespielt.
"Manche Mütter haben versucht, die Lage zu normalisieren, indem sie geheiratet haben. Oder sie sind dahin umgezogen, wo niemand ihre Geschichte kannte." Andere Kinder kamen ins Heim oder in Pflegefamilien oder wurden adoptiert.
"Bei allen bleibt der Wunsch, die eigenen Wurzeln zu kennen. Auch wenn sie ihre Adoptiv-, Pflege- oder Stiefeltern lieben. Diese fürchten ihrerseits, das Kind könne sich von ihnen entfremden." Aber das stimme nicht.
Wenn sie erst Fragen auf ihre Antworten erhalten hätten, fühlten sie sich erleichtert oder, wie es eines der im Buch zitierten Kriegskinder am Grab seines leiblichen Vaters erfahren hat: "Ich war überglücklich, obwohl er tot war, aber ich hatte ihn gefunden."
Kriegskinder heute
Über das Buch hinaus schlägt Gerlinda Swillen im BRF-Interview auch eine Brücke zu den Kindern aktueller kriegerischer Konflikte. "Heute ist die Lage noch viel schwieriger."
Noch Ende Oktober hatte Gerlinda Swillen in einem offenen Brief das Leid der "belgischen Kinder von Syrien" angeklagt und meinte damit die Kinder von belgischen Bürgern, die sich dem sogenannten Islamischen Staat angeschlossen haben: "Diese Kinder müssen zurückkommen. Wenn sie dort bleiben, werden sie sterben. Und wenn sie überleben, wird die IS-Propaganda ihnen sagen: 'Seht nur, Belgien, Deutschland, Europa, … lassen euch im Stich'."
Dabei habe gerade Belgien sich während früherer Konflikte oder Katastrophen sehr aufnahmebereit gezeigt. "Besonders auch für diese Kinder gibt es die Suche nach Identität", sagt Gerlinda Swillen.
Den Einwand, dass die Kinder aus einem terroristischen Umfeld kommen, weist Gerlinda Swillen zurück: "Man sollte aus meiner Forschung doch endlich etwas lernen und vom Standpunkt der Kinder ausgehen. Die Kinder tragen keine Schuld für das, was ihre Eltern getan haben. Man soll ihnen eine Chance geben, endlich ein normales Leben zu führen."
Das Buch "Der Zweite Weltkrieg ist unsere Wiege" von Gerlinda Swillen ist im Grenz-Echo-Verlag erschienen.
Stephan Pesch