Die Sprache hat es ihm angetan - oder vielmehr das Schreiben. Darum schreibt Leo Gillessen (Jahrgang 1954) seit vielen Jahren Gedichte, kleine Texte, hin und wieder auch etwas längere Prosa. "Schreiben ist das Dokumentieren des Jetzt, dessen, was da ist, jetzt im Augenblick."
Erst sind es handschriftliche Notizen, dann gibt er sie in seinen Rechner und mit der Zeit wird ein Büchlein daraus, wie einige davon in der Edition Krautgarten erschienen sind - oder zuletzt bei den Editions Tétras Lyre. Denn Leo Gillessen schreibt nicht nur für sich, sondern für andere. "Das liegt einfach daran, dass man, wenn man redet, gehört werden möchte. Man kann natürlich hinausgehen in den Wald und Monologe halten für die Fichten. Das ist auch eine Alternative. Menschen tun das. Das andere ist: Wenn ich sage, was ist, dann kann das auch für mein Umfeld da sein. Ich will das ja nicht verschweigen. Veröffentlichen heißt von mir in die Öffentlichkeit bringen. Die Öffentlichkeit ist einfach nur das, was mich umgibt."
Diese (ostbelgische) Öffentlichkeit sucht Leo Gillessen auch jetzt, wo die Behörden und Einrichtungen der Deutschsprachigen Gemeinschaft "50 Jahre Autonomie" feiern. "Mir ist vor allen Dingen die Absurdität unserer ostbelgischen Wirklichkeit mehr und mehr bewusst geworden. Je mehr auf Feiern und Fröhlichkeit Wert gelegt wird, wo man doch mit dem Eigentlichen, nämlich der Sprache, etwas, sagen wir mal stiefmütterlich umgeht."
Das Bewusst-werden fasst Leo Gillessen, wie sollte es anders sein, in einen literarischen Text. "Gott sei Dank nimmt man das mit der deutschen Grammatik hier nicht so genau. Der Deutsche an sich ist hier ein Fremder, ein Ausländer, nicht zuletzt auch wegen der Sprache. Beschönigen wir nichts, Hochdeutsch bleibt für den Ostbelgier eine Fremdsprache. Eigentlich müsste es richtiger die "Moselfränkische Dialekt-Gemeinschaft" heißen, was aber nur für den südlichen Teil Ostbelgiens ganz richtig wäre."
Seine Muttersprache, sagt Leo Gillessen, sei nämlich das Plattdeutsch gewesen, in Heuem im Ourgrund, wo er aufgewachsen ist. Heute lebt er in Medell. "Deutsch war meine erste Fremdsprache, vor den anderen: Französisch, Englisch und Niederländisch. Deutsch war eine Fremdsprache und ist das eigentlich bis jetzt geblieben. Das, was man fühlt, deshalb Muttersprache, das entsteht in den ersten Jahren. In den ersten drei Jahren entsteht die emotionale Wirklichkeit. Und die geschieht in der Sprache. Dinge, die in der Sprache keine Wirklichkeit haben, haben auch keine im Leben."
Zurück zur Sprache, der Grundlage unserer Hervorhebung im belgischen Allerlei. Wie kommt es wohl, dass man diesem wesentlichsten Bestandteil unserer Sonderstellung hier so wenig Beachtung schenkt, insbesondere der Poesie (der "Muttersprache des menschlichen Geschlechts", wie Johann Georg Hamann sagte)? "Das finde ich eine fantastische Aussage. Und das ist tatsächlich so, dass Poesie eigentlich die Schwelle ist, die Schwelle, auf der man zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen steht, zwischen dem, was nennbar ist, und dem, was nicht nennbar ist."
Über solche sprachphilosophischen Überlegungen hinaus hält Leo Gillessen mit gezielter Kritik nicht hinter dem Berg, etwa darüber, wie die Kulturautonomie ausgestaltet wurde. "'Poesie ist ja nichts Angenehmes', sagte Herta Müller und ich würde so weit gehen zu sagen, Poesie ist weder praktisch noch bequem. Vermutlich hat man deshalb die Literaturzeitschrift 'Krautgarten' einfach vertrocknen lassen 'bis der Tod eintrat' wie es heißt."
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Leo Gillessen geht es nicht um eine Selbstbeschränkung auf das Deutsche oder das Plattdeutsche. Das praktische Zusammenleben, schreibt er, geschehe für ihn in einem sehr polyglotten Sprachfeld von Platt, Deutsch, Französisch, Englisch, Niederländisch, Spanisch und Griechisch. "Je mehr Sprachen ich spreche, desto weiter fasst sich meine Wahrnehmung. Also ich kann mehr wahrnehmen, wenn ich mehr Sprachen kenne. Das ist das Schöne daran. Aber eigentlich das Grundsätzliche nicht vergessen: die Muttersprache und diese blühen lassen, leben lassen, weiterleben lassen, sich verändern lassen. Das wäre doch ein Aspekt!"
Stephan Pesch