Belgien und vor allem die Hauptstadt Brüssel feiern dieses Jahr das Jahr des Jugendstils ("Art Nouveau"). Damit soll an das Geburtsjahr dieser gerade in Brüssel stark verbreiteten Kunstrichtung in Belgien erinnert werden. Vor 130 Jahren legte der aus Gent stammende, aber damals schon in Brüssel wohnende Architekt Victor Horta den letzten Schliff an das Brüsseler Hotel Tassel. Dadurch wurde Horta berühmt – der Jugendstil in Belgien war geboren.
Wenig erstaunlich also, dass in diesem Jugendstil-Jahr jetzt auch in den "Halles Saint-Géry" im Brüsseler Stadtzentrum unweit der Börse eine Ausstellung zu Horta und dem Jugendstil zu besuchen ist. Doch Achtung: Bei dieser Ausstellung ist nicht alles so, wie es zunächst scheint. "Das verlorene Skizzenbuch von Victor Horta – wenn Künstliche Intelligenz den Jugendstil interpretiert" lautet der Titel der Ausstellung. In den ehemaligen Markthallen "Halles Saint-Géry", wo der Ursprung von Brüssel liegen soll, hängen an zwei Seiten 35 Fotos, Bilder oder Ausdrucke mit Jugendstilmotiven.
Eine Tafel zu Beginn der Ausstellung erklärt: "Der große belgische Jugendstil-Meister Victor Horta hatte bei seinem letzten Umzug 1945 rund 800 Kilogramm Papier mit Zeichnungen, Entwürfen und Skizzen an eine Papierfabrik verkauft." Das entspricht angeblich der Wahrheit. Als Quelle dafür geben die Ausstellungsmacher das Internet-Lexikon Wikipedia an. Doch dann kommt der Clou: Was wäre, wenn eines dieser Skizzenbücher wieder auftauchen würde, ist als Frage auf der Tafel zu lesen. Welche Werke von Horta, die es nie gegeben hat, würde man dann plötzlich sehen können?
Die Bilder in der ehemaligen Markthalle geben die Antwort. Sie sehen so aus, als ob sie von Horta selbst entworfen worden seien. Der Art-Nouveau-Stil ist unverkennbar. Nur sind die Werke nicht von Horta, sondern sie sind entstanden aus Computerprogrammen, sind also von einer "Künstlichen Intelligenz" erschaffen.
"Ziel ist es, den Menschen etwas Konkretes zu zeigen, was sie als physisch vorhandenen Gegenstand erleben können", erklärt Yuni Fajardo, Vorsitzende des Vereins Atabey, der die Ausstellung geschaffen hat. "Man spricht oft von Künstlicher Intelligenz und denkt dabei an Computer, Bildschirme, ein Foto auf einem Bildschirm. Aber hier sieht man wirkliche Bilder, wie in einer klassischen Ausstellung. Allerdings mit dem Unterschied, dass diese Bilder von der Künstlichen Intelligenz geschaffen wurden. Sie haben bislang nirgendwo anders existiert."
Fünf Tage lang haben Mitglieder des Vereins daran gearbeitet, die ausgestellten Werke mithilfe von verschiedenen Programmen der Künstlichen Intelligenz zu erzeugen. 500 bis 600 Werke seien dabei herausgekommen, aber nur 35 waren so gut, dass sie für die Ausstellung taugten. Denn zumindest noch hat die Künstliche Intelligenz auch ihre Grenzen.
Diese Grenzen kann man bei einigen der ausgestellten Bilder noch durchaus entdecken. Aber nur, wenn man genau hinschaut. Zum Beispiel bei der Schrift: Überall dort, wo Schrift auf den Bildern zu sehen ist, ergibt das Geschriebene keinen Sinn oder ist erst gar nicht richtig lesbar.
Doch dafür muss man genau hinschauen - was viele Besucher nicht machen würden. Sie würden die Bilder für echt halten, erzählt Fajardo. Manche würden sogar fragen, wo sie das ein oder andere abgebildete Gebäude in Brüssel finden könnten. Mehrmals sei es auch schon vorgekommen, dass Lehrer von Schulklassen die ausgestellten Bilder dazu genutzt hätten, um den Schülern typische Elemente des Jugendstils zu erklären.
Die Besucher zu täuschen ist aber nicht das Ziel. Die Ausstellung bemüht sich ganz im Gegenteil deutlich um Transparenz. Aufgrund erster Reaktionen von Besuchern, die in den Bildern echte Werke erkannt hatten, wurden sogar noch zusätzliche Schilder aufgehängt, um klarzustellen, dass es sich bei den Bildern nicht um menschlich geschaffene Kunstwerke oder Fotos echter Gebäude handelt, sondern um Produkte der Künstlichen Intelligenz.
Die Ausstellung will die Besucher dann auch vielmehr zum Nachdenken anregen. Zum Diskutieren über das, was Künstliche Intelligenz mit uns macht, wie blendend echt sie Dinge erscheinen lassen kann, und wie wir als Menschen darauf reagieren. Eine solche Auseinandersetzung mit den Leistungen der Künstlichen Intelligenz sei wichtig, so Fajardo und ihre Mitstreiter. Denn Künstliche Intelligenz sei mittlerweile schon Teil unseres Alltags. Auch, wenn wir sie als solche nicht immer erkennen.
Die Ausstellung "Das verlorene Skizzenbuch von Victor Horta – wenn Künstliche Intelligenz den Jugendstil interpretiert" ist noch bis zum 30. Mai in den Halles Saint-Géry im Brüsseler Stadtzentrum zu besuchen. Der Eintritt ist frei.
Kay Wagner