"La Sonnambula" heißt "Die Schlafwandlerin" - doch es ist alles andere als einschläfernd, was uns da gerade in der Lütticher Oper geboten wird. Dabei stand diese Eigenproduktion der Königlichen Oper der Wallonie irgendwie unter keinem guten Stern. Angesetzt war sie schon für März 2020 - und dieses Datum kennen wir alle: Anfang der Covid-19-Pandemie und allgemeiner Lockdown.
Für alle Mitwirkenden an dieser wirklich herausragenden Opernproduktion war das besonders hart: Am Morgen nach der Generalprobe zu "La Sonnambula" wurde die Premiere abgesagt und niemand konnte damals ahnen, wie lange dieses Spielverbot dauern sollte.
Fast drei Jahre später ist es jetzt endlich so weit: "La Sonnambula" wird wieder aufgenommen, die Proben laufen hervorragend, alles ist bereit für die Premiere am vergangenen Freitag. Und dann macht der Wettergott dem Ganzen schon wieder – fast – einen Strich durch die Rechnung: Schneechaos in Lüttich, die Innenstadt komplett blockiert und um 20 Uhr erst etwa 200 Zuschauer im Publikum - in einem Saal, der eigentlich ausverkauft war.
Weltklasse
Die Aufführung startet dann mit einer halben Stunde Verspätung und zu diesem Zeitpunkt haben etwa 500 Opernfans den Weg durch das Schneechaos ins Opernhaus gefunden. Doch sie werden für ihre Mühen und ihr Durchhaltevermögen belohnt. Was ihnen in den kommenden zweieinhalb Stunden geboten wird, ist absolute Weltklasse.
Vincenzo Bellinis Oper aus dem Jahr 1831 ist etwas ganz besonderes und das wird auch bei der Inszenierung in Lüttich schnell deutlich. Hintergrund der Handlung ist die Tatsache, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Phänomen des Schlafwandelns gerade bei der einfachen Landbevölkerung noch völlig unbekannt ist. Und als eines Morgens in einem kleinen Schweizer Dorf die junge Braut Amina schlafend im Hotelzimmer eines durchreisenden Fremden gefunden wird, glauben natürlich alle, dass sie ihren Ehemann betrogen hat.
Nach einigen Verwicklungen und Missverständnissen stellt sich am Ende aber heraus, dass Amina sich nichts zu Schulden hat kommen lassen, sondern an einer mysteriösen Krankheit leidet, die Menschen im Schlaf Dinge tun oder sagen lässt, an die sie sich später nicht mehr erinnern können.
Fest für Augen und Ohren
Es gibt in "La Sonnambula" durchgehend wunderbare Musik und einige der schönsten Arien des Belcanto. Die Handlung lässt allerdings nicht viel "Action" zu und deshalb wird die Oper oft in konzertanter Form aufgeführt. Das war auch bei der letzten Produktion von "La Sonnambula" in Lüttich im Jahr 2001 der Fall.
Wenn man diese Oper dennoch inszeniert aufführen möchte, muss man sich schon etwas besonderes einfallen lassen, um das Publikum bei Laune zu halten. Aus diesem Grund hat man den Regisseur und Filmemacher Jaco Van Dormael für die Lütticher "Sonnambula" verpflichtet. Und Van Dormael macht aus einer Oper über das Schlafwandeln ein cineastisches und ganzheitliches Meisterwerk, ein Fest für Augen und Ohren.
Wir kennen ihn von seinen Filmen "Toto le héros" und "Le Huitième Jour". Und auch bei "La Sonnambula" nimmt die Leinwand buchstäblich einen zentralen Platz ein. Auf diese Leinwand werden in schwarz-weiß und Grautönen Hintergründe projiziert, die mit Echtzeitbildern von Tänzern überlagert werden – ein ästhetisches Meisterwerk.
Der Blick der Zuschauer wird von dem Geschehen auf dieser Leinwand geradezu angezogen und die wunderbare Musik wird zur Begleitung, fast wie Filmmusik. Dabei ist die Leistung von Orchester, Ensemble und Solisten eine der besten, die ich in den vergangenen Jahren in der Lütticher Oper gehört habe.
Dirigent Giampaolo Bisanti hat es in wenigen Monaten geschafft, dem Orchester einen eigenen Sound zu geben. Das Ensemble der Lütticher Oper singt sehr homogen und klangschön und die Gesangssolisten sind wirklich von allererster Güte, allen voran Weltklasse-Sopranistin Jessica Pratt als schlafwandelnde Amina.
Mein Fazit: Eine solche geballte musikalische und szenische Qualität gibt es in unserer Region selten. Und wenn die Lütticher Oper ihren aktuellen Weg beibehält, wird sie mit Sicherheit in den kommenden Jahren eine feste Größe unter den europäischen Opernhäusern werden können.
Patrick Lemmens