Gerade mal 50 Cent bekommt ein Erntehelfer für ein Kiste mit 22 Kilo gepflückter Apfelsinen, die meistens zu Saft verarbeitet werden. Dafür muss er hart arbeiten: bis zu 14 Stunden am Tag. Wenn er Glück hat und Arbeit findet, hat er dann 25 Euro verdient. Manchmal ist das aber nur an wenigen Tagen im Monat der Fall.
Für diesen geringen Lohn wolle niemand in Kalabrien arbeiten, schildert Dirk Riemann von Miteinander Teilen. "Das kommt daher, dass die Getränkeindustrie die Preise so herunter gedrückt hat, damit wir schön billigen Orangensaft in den Läden haben. Einheimische wollen nicht zu diesen Konditionen arbeiten, sind lieber arbeitslos. Die Migranten machen den Job - aber unter sklavenähnlichen Bedingungen. Um zu überleben."
Die Fahrt zum Feld müssen sie teuer bezahlen. Ihre Arbeit ist mühselig. Und oft bleibt ihnen der Lohn verwehrt. Viele sind illegal beschäftigt und können sich deswegen auch nicht wehren. Ihre Lebensbedingungen sind alles andere als menschenwürdig. "Erst mal leben sie einige Kilometer entfernt von den nächsten Dörfern, also quasi abgeschottet vom Rest der Gegend, in improvisierten Zeltlagern, mit Zeltplanen und Kartonunterlagen. Im Sommer können sie einige Euro verdienen durch das Apfelsinenpflücken. Ansonsten ist es ein sehr armseliges Leben ohne Perspektive", so Achim Nahl vom Integrationsrat.
Die Ausstellung ist das Ergebnis einer Studie, die der Luxemburger Anthropologe Gilles Reckinger zwischen 2012 und 2014 durchgeführt hat. Nach einem Aufenthalt auf Lampedusa, wo die Flüchtlinge stranden, wollte er wissen, was mit den Migranten geschieht, wenn sie auf das italienische Festland gelangen. Viele von ihnen versuchen, sich als Erntehelfer durchzuschlagen.
Welche Gesellschaft wollen wir?
Reckinger hat ihr Schicksal dokumentiert und sie aufgefordert, auch selbst Fotos und Videos von ihrem Alltag zu machen. "Es geht nicht nur darum, alleine das Elend zu zeigen und aufzurütteln", sagt Achim Nahl. "Es geht auch darum, den einzelnen Menschen zu zeigen, in Interviews und Texten. Da ist zum Beispiel Ahmed mit seinen Sorgen und Ängsten, aber auch seiner Hoffnung und seiner Widerstandskraft und seiner Erfindungsgabe."
Am Ende stellt sich dem Betrachter der Fotos, Videos und Texte die Frage: Soll man diese Apfelsinen kaufen oder nicht? Keine einfache Antwort, finden Achim Nahl und Dirk Riemann. "Wenn ich einerseits dafür bin, faire Produktion und fairen Handel zu fördern, und möglichst bewusst und gezielt zu kaufen, auf der anderen Seite aber sehe, dass Ahmed die paar Euros nötig hat, um zu überleben, dann kann ich nicht mehr einfach sagen sagen: Ich kaufe solche Apfelsinen nicht mehr", sagt Achim Nahl.
"Ja, was kann ich tun?", fragt Dirk Riemann. "Ich muss zeigen: Ich bin nicht bereit dazu, ich möchte andere Produkte kaufen. Das ist wichtig. Und dafür steht auch das Netzwerk Integration. Wir sind als Bürger gefordert: Was für eine Gesellschaft wollen wir? Und das müssen wir dann auch bei der Politik einfordern."
Am kommenden Donnerstag wird der Initiator der Ausstellung, Gilles Reckinger, in einer Gesprächsrunde zum Thema "Bittere Orangen" Stellung nehmen. Der Abend könnte helfen, die Apfelsinenernte in einem neuen Blickwinkel zu sehen.
Michaela Brück