Die Zahlen, die Manuel Müller während eines Veranstaltungsabend in der Landesvertretung Baden-Württembergs bei der EU in Brüssel präsentierte, überraschten: Aufgrund von Umfragen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten hatte der Mitarbeiter des Finnischen Instituts für internationale Angelegenheiten in Helsinki berechnet, wie die Europawahl im kommenden Juni ausgehen könnte und wie sich die aktuellen Fraktionen dann gegenüber heute verändern würden.
Ergebnis: Große Umwälzungen sind nicht zu erwarten. Verluste für die Grünen, Liberalen und Konservativen, Gewinne für die europäischen Linken, die Sozialdemokraten und auch die beiden rechtspopulären beziehungsweise -extremen Fraktionen EKR und ID. Aber alles - sowohl Gewinne als auch Verluste - im Rahmen des Überschaubaren.
Keine rechte Welle also, die da auf Europa zumindest im Augenblick zurollt. Aber "was die Projektion auf Grundlage der nationalen Umfragen schon voraussagt ist, dass die rechten Parteien wahrscheinlich stärker werden im Europäischen Parlament. Dass sowohl die EKR als auch die ID dazugewinnen könnten an Sitzen. Die werden aber natürlich weit entfernt sein von einer eigenen Mehrheit. Und am Ende kommt es deshalb für die Mehrheitsbildung darauf an, was die Parteien in der Mitte machen und inwiefern diese dann wieder zusammenfinden zu dieser Zusammenarbeit in einer großen Koalition, wie sie sie bisher betrieben haben", sagt Müller nach der Veranstaltung.
Demokratisches Rückgrat des Europaparlaments
In dieser Antwort steckt viel, was es zu verstehen gibt. Zum einen die Beobachtung, dass bislang die meisten Entscheidungen im Europaparlament mit großer Mehrheit verabschiedet werden - mit der Mehrheit der größten und zweitgrößten Fraktion zusammen, der bürgerlichen EVP und den Sozialdemokraten, plus meist noch die Liberalen und/oder Grünen. Das ist die demokratische Mitte, wie diese Parteien sich selbst verstehen, das große demokratische Rückgrat des Europaparlaments.
Laut Müllers Zahlen wird dieses Rückgrat auch weiter bestehen. "Die meisten Entscheidungen werden weiter basieren auf einer Zusammenarbeit der größten Fraktionen der Mitte. Es wird sich in einigen Entscheidungen aber möglicherweise doch eine rechte Mehrheit zusammenfinden." Das könnte immer dann geschehen, wenn die EVP sich doch nicht mit den anderen Fraktionen der demokratischen Mitte einigen könnte. Wie das zum Beispiel jüngst beim Lieferkettengesetz war, das die EVP mehrheitlich ablehnte, wie auch die beiden rechtsextremen Fraktionen. Die drei zusammen könnten - wenn Müllers Prognose sich bewahrheiten würde - in Zukunft so ein Gesetz stoppen. Weil sie zusammen dann mehr Stimmen haben könnten als der Rest des Parlaments.
Damit entstünde eine ähnliche Situation wie im deutschen Bundesland Thüringen. Dort ist die AfD als Rechtsaußenkraft sehr stark. Als jetzt die CDU zusammen mit Stimmen der AfD eine Steuersenkung im Thüringer Landtag durchsetzte, ohne sich dafür allerdings mit der AfD abgesprochen zu haben, war der Aufschrei groß.
Dass es so etwas in Zukunft auch im Europaparlament geben könnte, also ein gemeinsames Stimmverhalten der bürgerlichen EVP mit den rechtspopulistischen EKR und ID, konnte der Sprecher der CDU/CSU-Abgeordneten im Europaparlament, Daniel Caspary, nicht ausschließen. Allerdings betonte er "mir ist wichtig, dass es keine strukturierte Zusammenarbeit mit Extremisten und Populisten gibt. Aber bitte: Weder rechts noch links."
Strukturiert muss hier als eine regelmäßige, auf gemeinsamen Absprachen beruhende Zusammenarbeit verstanden werden. Das lehnten auch Vertreter der Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen an diesem Abend in Brüssel ab.
Sorgen um Erstarken der Rechtsextremen
Alle blieben trotz der Zahlen von Müller dabei, dass sie sich Sorgen um ein Erstarken der Rechtsextremen im Europaparlament machen. "Ich habe große Sorgen. Wenn wir die Situation in großen Mitgliedstaaten sehen. Schauen Sie, wie stark Le Pen in Frankreich ist, die Rechtsextremen und Rechtspopulisten in Italien. Bei uns in Deutschland die AfD. In anderen Staaten ist die Situation ähnlich. Ich wünsche mir, dass wir wirklich das Problem adressieren, indem wir die nächsten neun Monate nutzen und noch einige der Probleme, über die sich die Menschen aufregen, lösen", so Daniel Caspary.
Ähnlich beunruhigt gab sich auch der SPD-Europaabgeordnete René Repasi. "Weil die Sache ist ja die: Die Rechtsextremen, die bei uns im Parlament sind, sind ja viel krasser, als die, die in Deutschland im Parlament bisher sitzen. Wenn man sich da anhört, was da für Sprüche geklopft werden, das ist wirklich Faschismus pur in Teilen. Und wenn da der Einfluss noch größer wird, egal ob man dadurch jetzt einfach nur Minderheiten hat im parlamentarischen Betrieb, hat das seine Auswirkungen auf den parlamentarischen Betrieb."
"Ich glaube, dass solche Prognosen ein Jahr vor der Wahl wirklich sehr unkonkret sind und nicht so besonders aussagekräftig", gab Rasmus Andresen, Grünen-Europaabgeordneter aus Flensburg, zu bedenken - und deshalb auch die Sorgen vor einem deutlichen Erstarken der rechtsextremen Kräfte im Europaparlament weiter völlig berechtigt bleiben.
Kay Wagner
Die Frage sollte eher lauten :
"Wie hoch ist die Wahlbeteiligung ?"