Selenskyjs Besuch im Europäischen Parlament hatte zunächst eigentlich mit einem ziemlichen Misston begonnen. Denn obwohl es sich um eine sehr riskante Reise für den ukrainischen Präsidenten handelt, die unter den striktesten Sicherheits- und Geheimhaltungsmaßnahmen vorbereitet werden sollte, ließen Mitarbeiter des Europäischen Parlaments die Katze schon vor Tagen aus dem Sack und kündigten den Besuch groß an – ein mehr als peinlicher Fauxpas.
Aber davon war heute – zumindest soweit sichtbar – nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: Wolodymyr Selenskyj sei wie ein Rockstar empfangen worden von den Europaabgeordneten, so einige Medien. Und Selenskyj musste sich seinen Weg zum Plenarsaal in der Tat fast schon freikämpfen, so viele Menschen wollten schon in den Gängen des Parlaments zumindest einen Blick auf ihn erhaschen oder ihm applaudieren. Eine Erfahrung, die den mittlerweile doch einiges gewohnten Präsidenten sichtlich nicht unberührt ließ.
Auch im Plenarsaal selbst bekam Selenskyj schon tosenden Applaus, bevor er auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte. Es sei ein wahrlich historischer Augenblick, so die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, als sie Selenskyj offiziell willkommen hieß. Der Beginn der brutalen und illegalen Invasion der Ukraine durch Russland liege nun fast ein Jahr zurück. Und seitdem habe Selenskyj es nicht nur geschafft, die Menschen in seinem eigenen Land als Anführer zu inspirieren, sondern auf der ganzen Welt.
Wenn Menschen heute den Namen Ukraine hörten, dann dächten sie an Helden, die gegen eine Übermacht kämpfen, an David, der Goliath besiege. An Symbole wie die Schlangeninsel, die Kämpfer von Mariupol und die Befreier so vieler Dörfer und Ortschaften. Die Ukraine kämpfe nicht nur für ihre eigenen Werte, sondern auch für die Werte und Ideale Europas. Man kenne die Opfer, die die Ukraine gebracht habe und bringe und wisse, dass ihre Existenz auf dem Spiel stehe, Selenskyj müsse deswegen zumindest im Europäischen Parlament sicher keine Überzeugungsarbeit mehr leisten, so Metsola.
Die Parlamentspräsidentin ging sogar so weit, die EU-Mitgliedsstaaten offen und direkt zur schnellen Lieferung von weitreichenderen Waffensystemen und sogar Kampfjets zu drängen. Das Europäische Parlament habe immer hinter der Ukraine gestanden, und werde das auch weiterhin tun, bis sie gesiegt habe – egal wie lange das auch dauern werde, unterstrich Metsola, bevor sie mit dem mittlerweile weltbekannten ukrainischen Schlachtruf "Slawa Ukrajini", "Ruhm der Ukraine" endete.
Ein Gruß, mit dem auch Selenskyj seine etwa 15-minütige Rede begann, die er fast komplett auf Ukrainisch hielt. Auf sein "Slawa Ukrajini" schallte ihm aus dem Halbrund des Parlaments auch nicht nur ohrenbetäubender Beifall entgegen, sondern auch von vielen die traditionelle ukrainische Entgegnung "Herojam slawa", also "Ruhm den Helden".
Während seiner Rede dankte Selenskyj allen Unterstützern der Ukraine und ging ausführlich auf die Werte und die Lebensweise ein, die die Menschen in der Europäischen Union und in der Ukraine teilten. Die Ukraine verteidige nicht nur sich selbst, sondern auch Europa und seine Demokratie, betonte der Präsident, auf dem Schlachtfeld. Wenn die Ukraine unterliegen sollte in diesem Kampf gegen Russland, diese denkbar anti-europäischste Macht der Gegenwart, dann werde das auch unweigerlich die europäische Lebensweise bedrohen.
Die Ukraine und Europa teilten eine gemeinsame Geschichte, die Ukrainer seien Europäer, betonte Selenskyj wieder und wieder. Und er sei in Brüssel, weil er den Eingang dieses Europäischen Hauses verteidigen wolle. Für den Kreml hingegen seien Menschenleben nichts wert, so der ukrainische Präsident, nicht mehr als Kanonenfutter, das man in die Schlacht werfe. Russland versuche aktiv, die dunklen Zeiten der 1930er und 1940er Jahre wiederzubeleben, warnte Selenskyj, mitsamt all ihrer Unmenschlichkeiten.
Europa aber werde immer frei bleiben – so lange man zusammenhalte und für die europäischen Werte und Lebensweise einstehe. Deswegen danke er allen Anwesenden und lade sie auch alle in sein Land ein, so der ukrainische Präsident, bevor er seine Rede mit dem Wunsch Ruhm für die Ukraine und ihre Verteidiger beendete.
Boris Schmidt