Der Angriff des russischen Machthabers Wladimir Putin auf die Ukraine ist in vollem Gange. Neben dem Widerstand der Bevölkerung und der Streitkräfte des Nachbarlandes ist Russland aber offenbar noch von etwas anderem ziemlich kalt erwischt worden: von den Sanktionen des Westens. Der zeigt sich ungewöhnlich geeint und entschlossen. Trotzdem scheint Putin - bislang zumindest - keinerlei Anstalten zu machen, Europa den Öl- oder Gashahn zudrehen zu wollen. Er greift sogar lieber zu Drohungen mit seinem nuklearen Arsenal.
Eine oberflächlich zumindest nicht sehr logische Vorgehensweise. Bis man sich etwas tiefer mit der Materie befasst - so wie zum Beispiel Thijs Van de Graaf, Professor für internationale Politik an der Universität Gent und spezialisiert auf Energiepolitik. Jeden Tag bezahlt Europa für den Import von Öl und Gas fast eine Milliarde Euro, erklärte der Experte bei Radio Éen. Mit den heutigen Preisen verdiene Russland jeden Tag 400 Millionen Euro mit dem Verkauf von Rohöl und 260 Millionen Euro mit Gas. Damit werde zu einem großen Teil das russische Militär finanziert.
Russische Kriegsmaschinerie finanziert
Anders gesagt: Mit der einen Hand gebe Europa der von Russland angegriffenen Ukraine Waffen und Geld. Mit der anderen Hand finanziere Europa über die Energieimporte die angreifende russische Kriegsmaschinerie. Eine kaum nachvollziehbare oder haltbare Situation.
Das Problem ist aber, dass Europa augenkundig seit Jahren nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte, was sich im Osten zusammenbraut. 2014, nach der russischen Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim und der Destabilisierung des Ostens des Landes, habe die Europäische Union wörtlich gesagt, dass sie unabhängiger von russischen Gasimporten werden wolle, erinnerte Van de Graaf.
Wendepunkt
In den acht Jahren seitdem sei die Abhängigkeit aber sogar gewachsen. Statt wie damals 30 Prozent bezieht Europa sogar 40 Prozent seines Gases aus Russland. Er glaube allerdings nicht, dass sich diese Entwicklung auch jetzt wiederholen werde. Es sei wohl ein Wendepunkt: Der Ruf Russlands auch als zuverlässiger Energielieferant sei vermutlich zu stark beschädigt und Europa sei ziemlich unsanft geweckt worden.
Wie Europa energieversorgungstechnisch genau reagieren wird, muss man noch abwarten. Am Montag sind die EU-Energieminister zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen. Die EU-Kommission soll wohl nächste Woche weitreichende Vorschläge vorstellen.
Dringlichkeitssitzung der EU-Energieminister: Energieversorgung für diesen Winter gesichert
Für den Energieexperten ist aber klar, dass Europa kurzfristig nicht alle russischen Energieimporte kompensieren kann. Aber es könne sich für den nächsten oder übernächsten Winter viel weniger verwundbar machen.
Was die unmittelbare Lage betrifft, so glaubt Van de Graaf nicht, dass Russland den Hahn zudrehen wird. Das Land habe damit nichts zu gewinnen. Aber komplett ausschließen könne man es natürlich auch nicht. Aber auch dann habe Europa erstens Vorräte als Puffer und zweitens auch die Kontakte mit zahlreichen Flüssiggaslieferanten intensiviert. Langfristig empfehle sich in jedem Fall eine radikale Umstellung - und zwar längst nicht nur, um sich unabhängiger zu machen.
Der Klimawandel und die damit verbundenen Naturkatastrophen verursachten ebenfalls riesige Kosten, führte Van De Graaf aus. Zusätzlich zu den enormen Summen, die Europa für den Import von fossiler Energie ausgebe.
Der Energiewandel beziehungsweise die CO2-Neutralität hätten ihr Preisschild, keine Frage. Aber das sei Geld, das in die lokale Wirtschaft investiert werde und lokale Arbeitsplätze schaffen könne - und ein Weg, um die Energierechnungen für Firmen und Familien zu senken, so Van de Graaf.
Boris Schmidt