Wochenlange Abschottung, Gesichtserkennung, strikte Kontrolle von Quarantäne - die chinesische Antwort auf Covid-19 ließ manchen Gesundheitsexperten und auch den ein oder anderen Bürger neidisch werden, bei allen Vorbehalten gegen das autoritäre Regime. Aber waren Demokratien mit ihren mitunter schwerfälligen Entscheidungsprozessen bei der Bekämpfung der Pandemie schlechter oder doch langsamer? Das wollte ein Forschungsteam um den Trierer Uniprofessor Marc Oliver Rieger wissen.
"Wir haben uns einfach Daten angeschaut über die Restriktionen, die einzelne Länder verhängt haben zu Beginn der Corona-Krise: Veranstaltungen finden nicht mehr statt, Schulen werden geschlossen oder Restaurants… Da gibt es einen aggregierten Index einer anderen Forschungsgruppe und wir haben uns angeschaut, wie schnell diese Restriktionen in einem bestimmten Land eingeführt wurden", erklärt Rieger.
Beteiligt waren Wissenschaftler von der Universität Trier, von der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung (WHU) - Otto-Beisheim School of Management und von der Central South University im Süden Chinas. Bei der Suche nach Auslösern für das unterschiedliche Regierungshandeln in der Pandemie konzentrierten sie sich auf kulturelle und institutionelle Faktoren: "Wie demokratisch oder eben nicht demokratisch ein Land ist und das Ergebnis war, dass es keinen signifikanten Unterschied gibt. D.h. ob jetzt so ein Land eher demokratisch oder autokratisch ist, hat für die Geschwindigkeit unterm Strich keine Rolle gespielt."
Kulturelle Unterschiede
Das, so Professor Rieger und sein Team, zeige auch schon der Blick nach Ostasien. "Wenn man ein bisschen neben China schaut auf Taiwan: Das ist eine prima funktionierende Demokratie, hat aber die Restriktionen genau so schnell wie China umgesetzt und ist auch sehr gut durch die Corona-Krise gekommen. Da gibt es andere Faktoren, die eine Rolle spielen, kulturelle Unterschiede, aber eben nicht, ob ein Land demokratisch oder autokratisch ist."
Es gebe verschiedene Methoden, mit denen kulturelle Unterschiede gemessen werden können. Professor Rieger nennt die Methode des niederländischen Kulturwissenschaftlers und Sozialpsychologen Geert Hofstede, der an der Universität Maastricht lehrte.
Zu den Kulturdimensionen, die Hofstede beschrieben hat, gehört die von Individualismus versus Kollektivismus. "Ein Land ist sehr individualistisch, wenn die Einzelperson eine große Rolle spielt und die Gemeinschaft dagegen eine kleinere Rolle spielt. Und ein Land ist kollektivistisch, wenn es andersherum ist. Das ist eine kulturelle Eigenschaft, die erst einmal nicht etwas mit der Regierungsform zu tun hat: Da gibt es Demokratien oder Autokratien, da gibt es Kommunismus oder Marktwirtschaft - das ist alles unabhängig davon. Es geht wirklich darum: Ist die Einzelperson wichtig, sind die Freiheiten und Rechte der Einzelperson wichtig oder ist es eher die Gemeinschaft, das Wohlergehen der Gemeinschaft?"
Individualismus versus Kollektivismus
Bei der Frage, wie wir diese Unterschiede in der Mentalität einschätzen, stünde uns im Sinne des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns etwas von der asiatischen Zurückgenommenheit gut zu Gesicht. "Wenn Sie über solche Fragen mit einem Ostasiaten diskutieren, in China, Taiwan oder Japan, dann werden Sie deutliche Unterschiede in der Beurteilung feststellen", sagt Rieger. "Die Menschen denken da einfach anders als bei uns. Und es ist wichtig im Hinterkopf zu behalten: Es ist nicht so, dass die Menschen in einem Land 'gut denken' und in einem anderen Land 'schlecht denken', nach dem Muster: 'Wir machen's richtig, die machen's falsch' oder andersherum. Je nach Situation ist halt die eine Denkweise besser oder die andere. Und bei Corona war eine eher kollektivistische Denkweise erfolgreicher."
Heißt also: In Ländern mit einem höheren Maß an Inidividualismus fielen die Reaktionen der Entscheidungsträger langsamer und weniger proaktiv aus als in kollektivistisch orientierten Gesellschaften. Dieser Unterschied war laut Marc Oliver Rieger noch stärker ausgeprägt in Ländern mit einem höheren allgemeinen Vertrauen in die Regierung.
"Wir haben gesehen: Wenn das Vertrauen in die Regierung groß ist, dann spielen die kulturellen Unterschiede eine noch stärkere Rolle. Nun ist Schweden ein sehr individualistisches Land, wo die Rechte der einzelnen Person sehr stark sind, und gleichzeitig eines, wo die Regierung ein hohes Vertrauen genießt. Und diese Kombination kann sehr gut erklären, warum die Restriktionen in Schweden sehr langsam und sehr lax waren im Vergleich zu anderen Ländern." In Gesellschaften mit ausgeprägtem Kollektivismus wie Taiwan, Vietnam oder China habe das Vertrauen in die Regierung dagegen die proaktive Umsetzung strenger Eingriffe und Regulierungen forciert.
Die ländervergleichende Auswertung der Daten ergab also, dass die Parameter Demokratie-Autokratie sowie Pressefreiheit die Handlungsgeschwindigkeit nicht maßgeblich beeinflussen. Einen möglichen Grund sieht Professor Rieger darin, dass demokratische Regierungen eher dazu gezwungen sind, durch beherztes und schnelles Entscheiden die Gunst der Wähler zu gewinnen, während Autokraten nicht so sehr unter Zugzwang stehen.
"Solche eher autokratischen Systeme haben eher das Problem, dass sie auch Ineffizienzen produzieren. Gerade bei Corona hat man gesehen: Es hat halt ein paar Wochen gedauert, bis die Regierung in Wuhan das mal irgendwann korrekt nach Peking gemeldet hat und bis überhaupt bekannt wurde: Oh, das ist ein Problem. Das wäre in einer Demokratie mit mehr Transparenz definitiv besser gelaufen."
Das Team um Professor Rieger will mit seiner Untersuchung dazu beitragen, Motive und Zwänge besser zu verstehen, die das Verhalten der Regierung in der Pandemie steuern. Die Forschungsergebnisse, so die Wissenschaftler, sollten auch auf zukünftige neuartige Krisen übertragbar sein - nicht nur auf eine erneute Pandemie.
Stephan Pesch
Funktionierende Demokratien sind in der Krisenbewältigung meist effektiver als autoritäre Staaten, weil mehrere Personen an der Entscheidungsfindung beteiligtsind. Wegen der gegenseitigen Kontrolle gibt es weniger Fehler als in einer Diktatur. Und in einer Diktatur muss man immer auf den Befehl von oben warten und kann erst dann handeln. Das blockiert und demotiviert.
Während des zweiten Weltkriegs sah man das deutlich zum Beispiel im Winterkrieg zwischen der UdSSR und Finnland. Aus Angst vor Stalin machten viele Offiziere lieber nichts, warteten auf Befehle. Das ermöglichte den Finnen zu handeln.