"Wir wollen Europa als ersten klimaneutralen Kontinent", sagte Charles Michel sichtbar erleichtert. Auf dieses gemeinsame Ziel hatten sich die EU-Staats- und Regierungschefs dann am Ende doch noch verständigt. Klimaneutral im Jahr 2050. Und das ist gleichbedeutend mit einem grundlegenden Umbau unserer Gesellschaften.
Das heißt, dass die Energieversorgung, die Industrie, der Verkehr, die Landwirtschaft, dass all diese Bereiche von Grund auf umstrukturiert werden müssen. 2050, das ist angesichts einer solchen Herausforderung quasi "morgen".
Polen braucht mehr Zeit
Kein Wunder, dass das dem einen oder anderen Angst machen kann. Und vor Beginn des Treffens hatten vor allem drei osteuropäische Länder abgewunken: Auf der Bremse standen Tschechien, Polen und Ungarn. Sie stellten Bedingungen, pochten in erster Linie auf finanzielle Beihilfen, um die Kosten für diesen grundlegenden Umbau stemmen zu können.
Und die von Michel in allen Sprachen hervorgehobene Einigung, nun, die ist eigentlich keine. Das musste er selbst auch bei der nächtlichen Pressekonferenz einräumen: "Wir haben zur Kenntnis genommen, dass ein Land mehr Zeit braucht, um dieses Ziel umzusetzen", sagt Michel.
Heißt im Klartext: Ein Land macht nicht mit. Und das ist Polen. Das Land ist tatsächlich in einer schwierigen Lage. Polen bezieht drei Viertel seines Stroms aus Kohle. 2050, das sind noch 30 Jahre. Im Energiesektor ist das "morgen".
Eine Frage musste denn auch kommen: "Wie können Sie denn von einer Einigung sprechen, wenn sich nicht alle einig sind?"
"Nun, wir sind uns darüber im Klaren, dass die Länder nicht in der gleichen Ausgangslage sind", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. "Es gibt Staaten, die teilweise aus historischen Gründen einen deutlich längeren Weg vor sich haben. Und hier sind Ausnahmen durchaus akzeptabel."
Dass Michel dennoch von einer Einigung sprach, mag aber auch darauf hindeuten, dass das neue Führungsduo, Michel und Von der Leyen, nicht länger akzeptieren wollen, das einzelne Länder die EU lähmen, beziehungsweise blockieren.
Beide, also Michel für den Rat und Von der Leyen für die Kommission, wollen auch dafür sorgen, dass die Zahnräder künftig besser ineinander greifen: Die Arbeit von Rat und Kommission werde künftig besser aufeinander abgestimmt.
Brexit: Schnell Klarheit schaffen
Noch in der Nacht werden wohl auch schon die ersten Hochrechnungen aus Großbritannien auf den Gipfel-Tisch geflattert sein. Und die Zahlen waren schnell so eindeutig, dass jeder weiß, dass es wohl bald Abschied nehmen heißt. Premier Boris Johnson dürfte bald jedenfalls keine großen Probleme mehr haben, seinen Brexit-Deal durchs Parlament zu lotsen.
Ratspräsident Charles Michel gab sich unbeeindruckt und zugleich dialogbereit. Er gratuliere erstmal dem Kollegen Boris Johnson zu seinem Wahlerfolg. Und er erwarte jetzt, dass das britische Parlament schnell den Austrittsvertrag verabschieden könne. Die EU jedenfalls sei für die nächsten Schritte bereit: "Es ist wichtig, dass jetzt schnell Klarheit geschaffen werde", sagte Michel.
Und genauso äußerte sich auch die amtierende Premierministerin Sophie Wilmès: "In der Politik und auch in der Wirtschaft sind klare Verhältnisse von tragender Bedeutung. Ab jetzt müssen wir uns auf die künftigen Handelsbeziehungen konzentrieren. Das ist für Belgien zum Beispiel von wesentlicher Bedeutung".
Dennoch werde die EU auch in diesem Punkt immer noch mit einer Stimme sprechen. Man werde jetzt festlegen müssen, welches Mandat die 27 verbleibenden Staaten dem Chefunterhändler Michel Barnier geben werden.
Der Brexit-Termin ist jetzt also wohl wirklich der 31. Januar kommenden Jahres. Beobachter sind sich aber einig, dass die eigentliche Arbeit jetzt erst beginnt. Boris Johnson will einen Vertrag über die künftigen Beziehungen mit der EU bis Ende 2020 aushandeln. Das gilt jedoch als denkbar knapp. Eine Fristverlängerung schließt Johnson aus.
Und die schlechte Neuigkeit ist: Sollte kein Abkommen über die künftigen Beziehungen zustande kommen, droht Ende 2020 wieder ein No-Deal-Szenario.
Roger Pint