Wähler berichten, vielerorts hätten sich Schlangen gebildet. Viele Menschen wollten ihre Stimme bereits auf dem Weg zur Arbeit abgeben.
Die Spitzenpolitiker wählten schon am Morgen, Jeremy Corbyn im Londoner Stadtteil Islington und Premierminister Boris Johnson in der Nähe seines Amtssitzes in der Downing Street. Johnsons Stimmabgabe war ungewöhnlich. Eigentlich wählen Premierminister in ihren eigenen Wahlkreisen, um sich selbst eine Stimme geben zu können.
Johnsons Wahlkreis liegt in einem Vorort im Westen von London. Dort wollen ihm Gegner seinen Unterhaussitz streitig machen. Johnson hatte seinen Sitz bei der Parlamentswahl 2017 nur mit einem knappen Vorsprung gewonnen.
Die Wahllokale sind noch bis 23 Uhr mitteleuropäischer Zeit geöffnet. Unmittelbar danach wird eine Prognose im Auftrag der Fernsehsender BBC, ITV und Sky News veröffentlicht.
Bei vier von fünf Wahlen seit der Jahrtausendwende lagen die Prognosen grundsätzlich richtig. Nach jüngsten Umfragen ist ein Sieg der Konservativen von Premier Boris Johnson zwar weiter wahrscheinlich. Ganz sicher können sie sich einer Mehrheit aber nicht sein. Die oppositionelle Labour-Partei von Jeremy Corbyn konnte den Abstand auf die Tories zuletzt verringern.
Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass es zu einem "hung parliament" kommt. Damit ist eine Sitzverteilung gemeint, in der keine der beiden großen Parteien aus eigener Kraft eine Regierung bilden kann. Wahlforscher hatten zuletzt nur noch einen Vorsprung von 28 Mandaten für die Tories vor den anderen Parteien vorausgesagt. Die Konservativen kämen demnach auf 339 von 650 Sitzen. Vor zwei Wochen hatte eine ähnliche Umfrage Johnson noch eine Mehrheit von 68 Abgeordneten prophezeit.
Für die jüngste Erhebung im Auftrag der Tageszeitung "The Times" wurden mehr als 100.000 Menschen über einen Zeitraum von sieben Tagen einschließlich Dienstag befragt. In vielen Wahlkreisen, vor allem in Mittel- und Nordengland, liefern sich die Konservativen und Labour ein enges Rennen.
Das Ergebnis dort könnte entscheidend für das Wahlergebnis des ganzen Landes sein. Denn das britische Mehrheitswahlrecht kennt nur Direktmandate. Ins Parlament ziehen nur die Kandidaten mit den jeweils meisten Stimmen in einem der 650 Wahlkreise ein - egal wie knapp ihr Sieg war. Die Stimmen für unterlegene Kandidaten verfallen.
Oppositionsparteien wie die Liberaldemokraten und die Schottische Nationalpartei riefen daher zum taktischen Wählen auf. Selbst der Schauspieler Hugh Grant, ein ausgesprochener Johnson-Gegner, machte dafür Werbung. Johnson versuchte daher bis zuletzt, in diesen hart umkämpften Wahlkreisen Stimmen zu gewinnen.
Brexit als zentrales Thema
Johnson führte bisher eine Minderheitsregierung an. Um sein mit der EU nachverhandeltes Brexit-Abkommen durchs Parlament zu bringen, braucht er eine stabile Mehrheit. Am 31. Januar 2020 will er das Land aus der Europäischen Union führen.
Sollte Labour-Chef Jeremy Corbyn Premierminister werden, will er innerhalb von drei Monaten einen neuen Brexit-Deal mit enger Anbindung an die EU aushandeln. Innerhalb von sechs Monaten sollen die Briten dann in einem neuen Referendum darüber abstimmen. Die Alternative wäre ein Verbleib in der Staatengemeinschaft. Corbyn selbst will sich neutral verhalten, wie er kürzlich betonte.
Chancen auf eine eigene Mehrheit hat Labour kaum. Die Sozialdemokraten müssten auf die Unterstützung der kleineren Parteien hoffen. Auch Johnsons Vorgängerin Theresa May wollte sich mit einer Neuwahl im Sommer 2017 mehr Unterstützung für ihren mit Brüssel ausgehandelten Brexit-Deal sichern. Sie verzockte sich und verspielte ihre knappe Mehrheit. Mit ihrem Abkommen flog sie drei Mal durch das Parlament und musste schließlich ihren Posten als Regierungschefin aufgeben. Zu ihren schärfsten Kritikern zählte Johnson.
dpa/sh/est