Straßburg war ursprünglich als Sitz des EU-Parlaments vorgesehen. Doch im Laufe der Zeit trafen sich die Europa-Politiker immer öfter in Brüssel. In Straßburg treffen sie sich nur noch vier Tage im Monat, sprich eine Woche. Das bedeutet: Einmal im Monat müssen das EU-Parlament, alle Mitarbeiter und alle Dossiers von Brüssel ins Elsass und wieder zurück. Autos, Züge, Flugzeuge, LKW, Taxis: Jedes Mal zieht der Zirkus hin und wieder zurück. Das kostet - zwischen 114 und 200 Millionen Euro im Jahr.
Und was den ökologischen Fußabdruck angeht, sieht die Rechnung nicht viel besser aus: ein jährlicher CO2-Ausstoß zwischen 11.000 und 19.000 Tonnen. Zum Vergleich: Eine durchschnittliche Familie würde dafür fast 1.500 Jahre brauchen. Oder: Ein Mittelklassewagen müsste dafür 4.000 Mal um die Erde fahren.
Ökonomischer und ökologischer Wahnsinn
Ein ökonomischer und ökologischer Wahnsinn - und das schon seit Jahrzehnten. 1990 beim EU-Gipfel in Dublin, lange bevor die CO2-Diskussion und Umweltaspekte eine Rolle in der Öffentlichkeit gespielt haben, gab es Stimmen, den Sitz des EU-Parlaments komplett nach Brüssel zu verlagern. "An dem Tag, an dem es eine echte politisch verantwortliche europäische Regierung gibt, soll sie am selben Ort mit dem Parlament zusammenarbeiten. Das ist kein Problem für die kommenden Monate, aber für die nächsten Jahre", so der damalige belgische Premierminister Wilfried Martens.
Seit dem Vertrag von Lissabon 2007 ist das mehr oder weniger der Fall, doch geändert hat sich immer noch nichts. Jetzt ist noch einmal Bewegung in die Sache gekommen. Die EU-Parlamentarier selber debattieren derzeit über dieses Thema. Viele sind sich einig, doch einer hält dagegen: Frankreich. Es will Straßburg behalten.
Anne Sander, französische EVP-Abgeordnete findet diese Debatte absurd, zuallererst aus juristischen Gründen: "Weder die Kommission, noch der Rat, noch das EU-Parlament können über den Sitz der Institutionen bestimmen." Es sind die Mitgliedsstaaten, so Sander, und von denen habe bislang keiner eine Änderung beantragt.
Ashley Fox, konservativer Abgeordneter des noch EU-Mitglieds Großbritannien, hält dagegen: Das Parlament könne den Vertrag ändern - und das sollte es tun. Fox findet es eine Schande, dass die christdemokratische EVP und die sozialistische Fraktion beide französische Sprecher präsentieren, die die Meinung ihrer Fraktionen nicht vertreten würden. In jeder Gruppierung gäbe es eine Mehrheit, die nur noch einen Parlamentssitz will, so der Brite.
Wohin mit der EMA?
Apropos Großbritannien: Infolge des Brexits muss die Europäische Arzneimittelagentur aus London wegziehen. Viele Länder wollen neuer Sitz der EMA werden - auch Belgien. Einige EU-Parlamentarier befürworten Straßburg als Sitz der EMA. So könne man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, sagt der flämische Journalist Rob Heirbaut: Die EMA zieht ins Straßburger Parlamentsgebäude und niemand braucht mehr von Brüssel nach Straßburg umzuziehen. Straßburg ist froh, die Parlamentarier sind froh - doch die Franzosen wollen das nicht.
Doch die Entscheidung liegt nicht bei den Parlamentariern, sondern bei den Regierungschefs der Mitgliedsländer. Der Europäische Vertrag besagt, dass das Europäische Parlament sich zwölf Mal im Jahr in Straßburg versammeln muss. Deshalb müsste der Vertrag geändert werden. Und zwar einstimmig. Frankreich jedoch blockiert jegliche Entscheidung darüber.
Alle Hoffnungen liegen jetzt beim neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Doch ein Einlenken ist fraglich. Die neue Regierung unterstützt die Kandidatur von Lille für den Sitz der Europäischen Arzneimittelagentur. Allerdings befürwortet Macron eine Reform der EU und entsprechende Vertragsänderungen. Beispielsweise einen gemeinsamen Haushalt für die Eurozone, inklusive Finanzminister und einem eigenen Parlament. Da könnte dann Straßburg als möglicher Sitz dieses Parlaments in Spiel kommen. Auch ein mögliches europäisches Militärhauptquartier in Straßburg wäre eine Möglichkeit. Bis dahin geht der Wahnsinn weiter, Monat für Monat.
Volker Krings - Bild: Frederick Florin/AFP