"Damit das klar ist", sagte Louis Michel: Man müsse natürlich erstmal begrüßen, dass der Putsch in der Türkei letztlich gescheitert ist. Man könne zwar vom Regierungsstil des türkischen Präsidenten Erdogan halten, was man will. Wenn aber die Armee demokratisch legitimierte Institutionen umstürzt, dann ist das die schlechteste aller Optionen.
Das bedeute aber natürlich beileibe nicht, dass damit alles in Ordnung wäre am Bosporus. Über die Türkei rollt eine Säuberungswelle wie aus dem Lehrbuch. Nach offiziellen Angaben sind über 7.500 Verdächtige festgenommen worden, darunter 6.000 Soldaten und 100 Polizisten, rund 750 Richter und Staatsanwälte sowie 650 weitere Zivilisten. Mehr als 13.000 Staatsbedienstete wurden suspendiert. "Da kann mir doch keiner weißmachen, dass da nicht entsprechende Listen oder Teile davon schon in Schubladen gelegen haben", sagte Louis Michel.
In jedem demokratischen Rechtstaat gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, sagte Michel. In Ankara sei das aber offensichtlich ausgehebelt worden. Und wenn Präsident Erdogan dann auch noch über die Wiedereinführung der Todesstrafe nachdenkt, dann sind für die EU die Grenzen des Tolerierbaren erreicht. Spätestens jetzt müsse es jedenfalls einen wirklich hörbaren Warnschuss von den EU-Staaten geben, forderte Michel. Und da dürfe es auch keine Rolle mehr spielen, dass es da ja auch noch das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gebe. Auf diesem Altar dürfe die EU nicht ihre Werte opfern.
Vielmehr wäre es jetzt an der Zeit, sich die Frage zu stellen, wie man künftig auf Phänomene wie einen Flüchtlingsstrom reagieren soll, sagte Michel. Hätte man von Anfang an über eine integrierte, heißt einheitliche EU-Migrationspolitik verfügt, dann hätte man niemals ein Abkommen mit der Türkei abschließen müssen. Und die nächste Flüchtlingskrise, die kommt bestimmt, das sei ein fast natürliches Phänomen.
Die EU müsse sich jetzt jedenfalls ohne Umschweife und ohne Rücksicht eben auf dieses Flüchtlingsabkommen zu ihren Werten bekennen und gegenüber Ankara auf deren Anwendung pochen. Und da gäbe es notfalls auch noch Daumenschrauben, die man anlegen könnte, so Michel weiter. Nicht vergessen: Wenn es um Argumente wirtschaftlicher Natur geht, da zeige sich Ankara erfahrungsgemäß sehr sensibel. Das Wort "Sanktionen" nimmt Michel aber nicht in den Mund.
Derweil scheint die Idee einer Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei offenbar ihren Weg zu gehen. Eine rechte Oppositionspartei hat schon Zustimmung signalisiert; mit der AKP von Präsident Erdogan gäbe es damit eine Mehrheit im Parlament in Ankara, um die Verfassung entsprechend zu ändern. Für die EU wäre das das Königsargument, um die Beitrittsverhandlungen auf Eis zu legen: Kein Land, das die Todesstrafe einführt kann Mitglied der EU werden, das hatte allen voran die Außenbeauftragte Federica Mogherini am Montag schon klargemacht.
Louis Michel ist seinerseits davon überzeugt, dass man weiter mit Ankara über einen Beitritt reden sollte. Die Verhandlungen hätten in der Vergangenheit häufig den erfreulichen Nebeneffekt gehabt, dass die Türkei Riesenfortschritte gemacht habe eben auf dem Weg zu einem Rechtsstaat. Natürlich hat die Türkei des Jahres 2016 da keine Aussichten. Aber, wer weiß, sagte Michel: Zeiten ändern sich, Regime können das auch.
Roger Pint - Bild: Bruno Fahy/BELGA