"Bitte bleibt!" EU-Ratspräsident Donald Tusk war eigentlich zu Besuch in Portugal, und doch wandte er sich von dort aus an die Briten: "Bleibt, denn wir brauchen Euch."
Es ist wohl die Woche der Entscheidung: To brexit or not to brexit. Am Donnerstag werden die Briten darüber entscheiden, ob sie in der EU bleiben oder eben der Union den Rücken kehren.
Die Gefahr eines Brexits, also eines Ausstiegs der Briten, die sorgt nicht nur an den Finanzmärkten und bei Exportunternehmen für Unruhe. Es geht die Angst um, dass ein Brexit nicht nur auf der Insel, sondern auch auf dem Kontinent nachhaltigen wirtschaftlichen und auch politischen Schaden anrichten könnte. Vielleicht, so eine oft gehörte Schreckensvision, vielleicht würde das britische Beispiel Schule machen, einen Domino-Effekt in Gang setzen. "Nur gemeinsam sind wir stark", beschwört Tusk denn auch die Briten und mit ihnen wohl auch andere Skeptiker.
Verhofstadt: EU funktioniert nicht
Das Schlimme sei aber, dass es im Brexit-Wahlkampf inzwischen gar nicht mehr um diese Fragen gehe, beklagte Altpremier Guy Verhofstadt in der VRT. Im Mittelpunkt stehe längst nicht mehr Europa, sondern fast ausschließlich nur noch die Einwanderungsproblematik. Und die Diskussion trage noch dazu oft rassistische Züge.
Doch würden längst nicht alle den Briten eine Träne nachweinen. Paul De Grauwe etwa, renommierter Ökonom und Professor an der London School of Economics, ist der Ansicht, dass sich die Insel ein für alle Mal entscheiden muss: Bis jetzt seien die Briten immer mit einem Fuß drinnen und mit dem anderen draußen gewesen. Frage also: Brauchen wir ein Land in der EU, das alles dransetzt, um die EU auszuhöhlen?
Guy Verhofstadt, heute Fraktionschef der Liberalen im EU-Parlament und überzeugter Europäer, der kann das sogar noch bis zu einem gewissen Maß unterschreiben. Mehr noch: Wir müssen doch alle zugeben, dass die Europaskeptiker nicht ganz unrecht haben, sagt Verhofstadt. Diese EU, die funktioniert doch nicht. Die Menschen kritisieren nicht Europa, die Menschen kritisieren dieses Europa, das keine Lösungen schafft, etwa auf das Flüchtlingsproblem, das nicht zusammen gegen Terrorismus vorgeht.
Europa wirkt wie ein Wasserkopf
Die EU produziert derzeit nichts, beklagt auch Paul De Grauwe. Nichts, außer einer blinden Sparpolitik. Dieses Europa steht ausschließlich für Austerität, sagt der Ökonom, der in einem früheren Leben mal für die Liberalen im Senat saß, also nicht unbedingt als strammer Linker durchgeht. Die EU predige also ein Spardiktat. Die Bürger seien ihrerseits von Ängsten geplagt, Angst um ihren Job und damit gepaart dann auch Angst vor Einwanderung. Wenn die EU da nicht mal positive Impulse gibt, dann wird die Skepsis nur noch größer.
Die EU wird damit also zum Sündenbock, zur Projektionsfläche für alle Sorgen und Ängste der Menschen. Und, weil die wichtigen Entscheidungen nach wie vor nur einstimmig getroffen werden können, wirkt Europa nach außen hin wie ein ebenso schwerfälliger wie unnützer Wasserkopf. Nur wäre es dumm, sich dafür gleich aus der EU zurückzuziehen. Vielmehr müssen alle zusammen daran arbeiten, diese EU von Grunde auf neu aufzustellen...
Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten
Wir müssen diesen Moment nutzen, um der EU neue Regeln zu geben, sie effizienter zu machen, sagt Verhofstadt. Und warum nicht über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten: auf der einen Seite ein Kerneuropa, dass zusammen vorwärts geht; und dann eben die übrigen Länder, die ein "Partnerstatut" bekommen. Eine tiefgreifende Reform also, um die EU besser zu machen, besser für alle, nicht nur für die Briten.
Und in der Zwischenzeit sollte man eins nicht vergessen, sagt Guy Verhofstadt: Hier geht es nicht nur um die EU an sich, hier geht es auch um geopolitische Fragen. Ein Brexit würde die EU schwächen - und eine gespaltene Union, die nützt in erster Linie unseren Feinden: Wladimir Putin etwa, für den kann die EU nicht gespalten genug sein.
Roger Pint - Illustrationsbild: Ben Stansall/AFP