Es wurde eine kurze Nacht für Vincenzo Nibali. Schließlich gab es in Paris einiges zu feiern nach seinem ersten Triumph bei der Tour de France. Aus der Heimat war Frau Rachel mit der wenige Monate alten Tochter Emma angereist, dazu natürlich auch sein Vater Salvatore und seine Mutter Giovanna, die erstmals in ein Flugzeug gestiegen war. Bei der teaminternen Astana-Feier dürfte Nibali allmählich klar geworden sein, was er auf den Champs Élysées noch nicht in Worte zu fassen vermochte. Spätestens beim Blick in die "Gazzetta dello Sport" konnte er es aber auf gelbem Papier lesen. "König Nibali", titelte das Sportfachblatt am Montag.
Die "Gazzetta" war zu Ehren des ersten italienischen Toursiegers seit 1998 in neuem Gewand erschienen, wo doch sonst die Farbe Rosa das Markenzeichen ist. Auch sonst wurde der überlegene Sieg des Sizilianers in Italien überschwänglich gefeiert. "Italien stößt mit Vincenzo an", schrieb der "Corriere dello Sport", und bei "Tuttosport" war zu lesen: "Der König ist Nibali! Die ganze Welt liegt ihm zu Füßen."
Leben schlagartig verändern
Für den schüchternen Mann aus Messina dürfte sich das Leben mit dem größten Erfolg seiner Karriere schlagartig verändern, wie es schon sein britischer Vorgänger Chris Froome kaum für möglich gehalten hatte. Die Einladung des italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi, der per SMS gratulierte, zu einem Besuch im Palazzo Chigi steht.
Vorerst wird Italien auf den Nachfolger des höchst umstrittenen und 2004 gestorbenen Marco Pantani aber noch warten müssen. Erst einmal will der 29-Jährige seinen Toursieg bei den lukrativen Kriterien in Belgien und den Niederlanden versilbern. Bereits für Montagabend stand der erste Auftritt im belgischen Aalst auf dem Programm. Auch ein Besuch bei den kasachischen Geldgebern, die Nibalis Gehalt von rund vier Millionen Euro jährlich bezahlen, ist noch geplant. Am 20. August soll Nibali in seiner Heimatstadt Messina, wo am Sonntag Public-Viewing-Bühnen aufgebaut worden waren, geehrt werden.
In den drei Wochen auf Frankreichs Landstraßen demonstrierte Nibali trotz aller Dominanz Bescheidenheit. Große Sprüche waren ihm fern, Gedanken an eine neue Ära hat er nicht. "Lance Armstrong wollte die Tour siebenmal um jeden Preis gewinnen. Ich habe nicht solche Ansprüche. Wäre ich es dieses Jahr nicht geworden, hätte ich das ohne Bitterkeit akzeptiert", sagte Nibali.
Elitärem Kreis von Fahrern beigetreten
Dabei können sich Nibalis Erfolge durchaus sehen lassen. Als erst sechster Radprofi der Geschichte tritt er dem elitären Kreis der Fahrer bei, die alle drei große Rundfahrten gewinnen konnten. Nur die Franzosen Jacques Anquetil und Bernard Hinault, sein Landsmann Felice Gimondi, die belgische Legende Eddy Merckx und der Spanier Alberto Contador hatten vor ihm außer der Tour auch den Giro d'Italia und die Vuelta in Spanien für sich entschieden.
Glaubt man seinen Wegbegleitern, hätte er noch weitaus mehr Siege errungen, wäre es in den vergangenen Jahren gerechter zugegangen. 2008 hatte er etwa dem Hochleistungsdoper Riccardo Ricco an den Anstiegen nicht folgen können, was ihm "das Herz gebrochen" habe. Der frühere Liquigas-Sportdirektor Stefano Zanatta berichtete, dass Nibali "vor Wut geweint" habe, weil er das Tempo nicht mitgehen konnte. "Dass ich nun Toursieger bin, habe ich den härteren Kontrollen zu verdanken", betonte Nibali. Trotzdem ist er als neues Gesicht für den Wandel im Radsport schwer zu vermitteln. Sein umstrittenes Astana-Team mit einst überführten Betrügern an der Spitze wie Alexander Winokurow haftet an seinem Image, ähnlich wie die vor Gericht haltlosen Anschuldigungen einer möglichen Zusammenarbeit mit dem lebenslang gesperrten Dopingarzt Michele Ferrari.
Angesichts seiner Dominanz begleiteten Nibali wie jeden seiner Vorgänger Zweifel, allerdings fehlten auch die Konkurrenten. Er freue sich darauf, wenn im nächsten Jahr der Dreikampf mit den gestürzten Froome und Contador nachgeholt werde, sagte Nibali. Bis dahin darf sich das bei der Fußball-WM früh gescheiterte Italien über einen neuen Sporthelden freuen.
Stefan Tabeling und Andreas Zellmer, dpa - Bild: Lionel Bonaventure (afp)