Herr Lange, letzte Woche hatten wir den Jahrestag "Ein Jahr Geisterspiele in der Bundesliga". Wie lauten Ihre Thesen zum Thema Geisterspiele?
Fangen wir mal von oben an. Das "Produkt" läuft, das wäre so die erste These. "Produkt" meint einfach, dass der Profifußball - so wie er organisatorisch aufgestellt ist - auch in der pandemiebedingten Krise ausgesprochen gut funktioniert. Man könnte sagen, die fehlende Stadion-Atmosphäre wird durch einen nahezu reibungslosen organisatorischen Ablauf des Spielgeschehens kompensiert. Und das ist umso bemerkenswerter, als dass ja die Bedingungen für das Abhalten von Fußballspielen in organisatorischer Hinsicht ausgesprochen schwierig sind. Gleichzeitig sind ganz viele Wettbewerbe aufrechterhalten worden. Es wurde nichts auf internationaler oder nationaler Ebene abgesagt oder eingeschränkt. Die ziehen ihr Programm durch, die Spieler bleiben gesund. Von großen Infektionsvorfällen ist der Fußball verschont geblieben, sodass man sagen kann, die haben in organisatorischer Hinsicht alles richtig gemacht, zumindest formal richtig gemacht. Und der Laden, das Produkt läuft.
Die zweite These steht dem schon ein Stück weit gegenüber, beleuchtet eine andere Facette: nämlich die, dass das "System Profifußball" moralischen Erwartungen gegenüber resistent zu sein scheint. Es deutet vieles darauf hin, dass dieses System Profifußball ein abgeschlossener Bereich ist, der seine eigenen, meist aus der Wirtschaft stammenden Regeln hat: der sich an Profit orientiert, organisatorisch sehr gut läuft, aber in seichtes Fahrwasser kommt, wenn es denn darum geht, moralische Maßstäbe zur Anwendung zu bringen, die in anderen Teilen der Gesellschaft lebensnah zur Anwendung gebracht werden. Vor allem dann, wenn diese moralischen Erwartungen und Werte nicht zuträglich sind im Hinblick auf das Ziel der Profitmaximierung. Das hat man so gesehen. Man schottet sich ab. Vielerorts ist dann auch von der so genannten Blase - also dem abgeschotteten Bereich Profifußball - die Rede, die nach anderen gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Normen funktioniert, als es der Rest der Gesellschaft macht.
Und das wäre dann auch wieder die Überleitung zur dritten These, nämlich die, dass sich die Fans im letzten Jahr tatsächlich in ganz großen Teilen abgewendet haben. Und Abwendung ist immer zu verstehen im Zusammenhang mit Zuwendung. Und das kennen wir aus der Fanforschung sehr gut. Dass Fans natürlich nach Niederlagen, nach bestimmten Entwicklungen und Ereignissen sich immer wieder abwenden, aber dann auch immer wieder zuwenden. In diesem Fall ist der Grund für die Abwendung, dass die Differenz zwischen dem, was "die da oben in den Management-Etagen machen" und "uns Fans hier unten" immer größer wird und dann tatsächlich zu einer emotionalen Abwendung der Fans geführt hat.
Bedeutet das denn, dass unterm Strich der Profifußball langfristig der Verlierer sein kann? Erstmal scheint er der Gewinner zu sein, weil Profifußball ja immer noch stattfinden kann, aber kann es sein, dass langfristig sich die Fans abwenden? Dass Fußball an Stellenwert verlieren wird, also nicht mehr "König Fußball" sein wird, sondern nur noch Regent oder Hoffnarr?
Hofnarr trifft es in manchen Teilen ganz gut. Denn die Themen, die der Fußball bietet, die gehen mehr in Richtung seichte, flache Unterhaltung und so fachliche Themen - sportfachliche Themen, Hintergrundthemen - sind etwas in den Hintergrund gerückt. Aber man hat offensichtlich erkannt, dass der Fußball als seichtes Unterhaltungsgut auch wunderbar funktioniert und läuft zumindest in kurz- und mittelfristiger Hinsicht. Wie es dann langfristig sein wird, kann man natürlich nur ganz schwer voraussagen. Aber man kann im letzten Jahr sehr gut beobachten, wie das Ganze etwas flacher geworden ist. Wie das Ganze ganz bewusst als Wirtschaftszweig, als Wirtschaftsmodell aufrecht erhalten wird und wie auch die Argumentation - die Begründung, weshalb man weiterspielt, obwohl andere Teile der Gesellschaft brachliegen - auch auf der sprachlichen Ebene einfach darauf hinaus läuft: "Naja, das ist halt unser Job. Wir müssen damit Geld verdienen und deshalb machen wir das." Das heißt, alle Bezüge zu möglichen Wertediskursen sind gekappt. Es ist einfach "nur" noch ein Geschäft, "nur" noch ein Business, ein Unterhaltungsbusiness. Und das zieht, solange die Menschen da noch einen Bezug zu haben. Aber es zieht auf lange Sicht dann nicht mehr, wenn man diese großartige gesellschaftliche Bewegung im Fokus haben möchte, wie wir das traditionellerweise aus dem Fußball der letzten 50, 100 Jahre her kennen.
Da hat sich also König Fußball so sein eigenes Grab geschaufelt?
Dazu gibt es noch viel zu viele Unbekannte in dieser Entwicklung bzw. in diesem Spiel. Dass man jetzt mehr in Richtung flacher Unterhaltung tendiert, das ist kurzfristig halt von Vorteil, sichert auch ganz viele Gelder. Aber das wäre sicherlich ein Sargnagel auf lange Sicht hin, weil dann konkurriert man mit allen anderen flachen Unterhaltungsformaten, die es jetzt schon gibt und die es auch zukünftig geben wird. Und falls irgendeine andere Sportart, irgendein anderes Event, irgendein anderes Ereignis es schafft, die jetzt entstandene Lücke mit Tiefgang für sich zu entdecken und zu füllen, dann hat man handfeste Konkurrenz und dann wird man das auch merken, dass die Menschen dann sich einfach abwenden und andere Dinge am Wochenende tun.
Hat denn der Profi-Fußball noch eine Chance, einen Reset-Knopf zu drücken und nochmal neu durchzustarten, neues Vertrauen zurückzugewinnen der Fans?
Auf jeden Fall die Chance besteht quasi an jedem Tag neu. Weil die Fans immer noch offen sind, immer noch bereit sind und immer noch von der Sehnsucht getragen sind, der Sehnsucht nach der guten alten Zeit. Diese Sehnsucht, die ist so ausgeprägt und so groß, dass man auch nach einem Jahr noch Aktionen starten könnte, Reformen einleiten könnte, die die Fans dann auch wieder emotional vollends zurück ins Boot holen. Weil das mögen die Fans, dafür leben sie. Und sowas kann man auch nicht einfach abschütteln. Also die Möglichkeit ist da, sie muss halt früher oder später genutzt werden. Und dafür braucht man eben strategisches Denken. Eine strategische Planung, die nicht nur an morgen und übermorgen denkt, sondern eben langfristig aufgestellt ist.
Das heißt, es ist möglicherweise auch eine Chance für den kleinen Dorfverein, halt wieder die Leute aus dem Dorf zu den regionalen Fußballplätzen hin zu locken? Möglicherweise ist das eine Option?
Genau das hat ja auch schon stattgefunden. Das ist eine weitere Entwicklung, die wir während der Pandemie beobachten konnten dass sich die Menschen einerseits anderen Themen zugewandt haben, vor allem Familienthemen, Themen rings ums Haus. Die Menschen sind halt zu Hause geblieben, haben sich damit befasst. Und wenn sie eine Sportveranstaltung besucht haben oder aufgesucht haben, dann fanden sie plötzlich das regionale Sporttreiben - nicht nur im Fußball, sondern auch in anderen Sportarten - weitaus interessanter. Und dort, wo in bestimmten Zeiten Sportveranstaltungen offen waren, wo man dann auch hingehen konnte, da hat dann auch der Amateursport durchaus Zulauf bekommen.
cr/km