Die Reagenzgläser mit dampfendem, sprudelndem Inhalt auf dem schwarzen Einband könnten den Betrachter verleiten anzunehmen, dass er mit "Destillierungen" ein Chemie-Fachbuch in Händen hält.
Und die Anspielung, die Leo Wintgens hier mit seiner Grafikerin Jutta Rücker umgesetzt hat, ist nicht zufällig: "Ich betrachte jedes Gedicht eigentlich als ein Experiment, wo etwas gegoren ist, das mit Wörtern zum Ausdruck gebracht wurde. Es ist also ein ähnlicher Prozess wie in der Physik oder in der Chemie: Es muss etwas werden, etwas entstehen. Und dann kommt erst die zweite Etappe, diese Empfindungen und Gedanken in Worte zu fassen."
Die Ergebnisse dieser zeitlebens unternommenen Experimente hat Leo Wintgens jetzt zusammengefasst, in gedruckter Form, immer unter Verwendung des ursprünglich gewählten Schriftbilds, teilweise ergänzt um Partituren - und auf einer beigelegten CD, worauf der Mitschnitt aus dem Jahr 1976 zu hören ist: ein "lyrischer Dialog" zwischen dem Sprecher Leo Wintgens und dem Eupener Männerquartett.
"Manche Texte habe ich dann auch selbst mit einer Melodie versehen, beispielsweise schon die aus dem ersten Band aus der Presse 1973, gedruckt bei Doepgen-Beretz in St. Vith. Da habe ich bei dem Gedicht "verrückt fou silly ee beetje getikt" mehrsprachig, aber gleichzeitig auch eine Melodie mit empfunden", erklärt er.
Umgekehrt ist Leo Wintgens bei seinen Gedichten eben nicht nur melodisch, sondern von Haus aus mehrsprachig unterwegs: "Ich habe in den verschiedenen Sprachen, darunter auch meine Vater- und Muttersprache, dem Platt, auszudrücken versucht, was mich betroffen gemacht hat, was ich empfunden habe. Beispielsweise die Überschwemmung des Wesertals, die ja leider eine ganze Reihe Opfer gefordert hat."
Unter dem Eindruck der Hochwasserkatastrophe vom Juli 2021 schrieb Leo Wintgens das Gedicht "Überschwemmungen/Inondations". Die Frage nach den Schuldigen - Leo Wintgens hat sie für sich beantwortet oder sagen wir: literarisch verarbeitet. "Durch meine Lyrik bewegt sich immer die Kritik. Sie ist im Kern, wie soll ich sagen, das Herz meiner Lyrik." Das zeigt sich an den teils verspielten frühen Gedichte über die Auseinandersetzung mit der Dutroux-Affäre bis zum Spätwerk.
Erschienen ist die Gedichtsammlung "Destillierungen" von Leo Wintgens (mit beigefügter CD) im Aachener Verlag 47.
Stephan Pesch