Silke Müller kommt zu spät zum Interview. Der Grund: Die Schulleiterin hatte besorgte Eltern einer suizidgefährdeten Schülerin am Telefon. In der Sache gibt es vorerst Entwarnung. Doch insgesamt ist die Situation ernst. "Wir verlieren unsere Kinder!" so der Titel von Silke Müllers Buch 2023.
Wie sieht es zwei Jahre später aus? "Ehrlicherweise denke ich, dass wir die Kinder noch mehr abhängen und noch mehr verlieren, als das 2023 der Fall war. Es sind so viele Entwicklungen im Bereich Social Media, es sind so viel unregulierte Räume da, künstliche Intelligenz macht das Ganze noch herausfordernder und noch schwieriger."
Eine Blitzumfrage bei ostbelgischen Jugendlichen bestätigt das Bild. Ob ihr schon mal was Schlimmes online passiert wäre, lautet die Frage an eine 15-Jährige, die anonym bleiben möchte. Die Antwort fällt so aus: "Was Schlimmes nicht. Also ich hatte auch mal auf Snapchat ein Nudes-Bild bekommen, von irgendeinem komischen Typen." Ein Nacktbild also, der Genitalbereich war zu sehen. "Ich habe es jetzt nicht genau angeguckt. Man tippt ja dann auf das Bild, dann verschwindet das und dann habe ich den einfach blockiert."
Früher habe sie öfters Anfragen von "komischen Leuten" bekommen, die "komische Fotos" haben wollten, erinnert sich eine 17-Jährige. "Ja, Fotos vom Körper, dies oder das. Da war ich etwas überfordert. Aber dann habe ich die Anfragen direkt gelöscht. Und danach habe ich die Leute gar nicht mehr angenommen, die ich nicht kannte. Aber das musste ich erst einmal lernen."
So sieht der "ganz normale Alltag" in der digitalen Welt von Kindern und Jugendlichen aus. Aber es sind Straftaten - und die Eltern bekommen davon nichts mit. Nichts Neues, sagt die Digitalexpertin Silke Müller. Dabei müssten doch die heute 30- bis 60-Jährigen wissen, was online alles möglich ist. Oder etwa nicht? "Ich würde tatsächlich sagen: Ehrlicherweise haben wir von den Tiefen dessen, was in sozialen Netzwerken auf die Kinder treffen kann, keine Ahnung. Liegt vielleicht auch daran, dass wir eine relativ unbeschwerte Jugend hatten."
"Ich bin 45, habe ja die Zeit erlebt ohne Smartphone, Internet und Co. Das heißt: Natürlich haben wir viel zu wenig Kenntnisse und wir begnügen uns so mit der Oberfläche: Ja, es gibt Pornographie. Ja, es gibt Gewalt. Ja, es gibt auch Pädophile im Netz. Was sich aber dahinter verbirgt? Da ist wirklich wenig Kenntnis vorhanden. Das erlebe ich bei meinen Vorträgen immer wieder."
Seit 2015 ist Silke Müller Schulleiterin an der Waldschule Hatten. 900 Schüler sind in der idyllisch wirkenden Schule in Niedersachsen eingeschrieben. Die Schule ist Vorreiter in Sachen Digitalisierung, es gibt eine "Social-Media-Sprechstunde" und die Kinder lernen, mit Fake News umzugehen. "Tatsächlich ist es so, dass ich natürlich ganz viel mit Kindern und Jugendlichen arbeite und gerade den Bereich des Cybermobbings im Blick habe."
"Mittels künstlicher Intelligenz ist es sehr einfach, beispielsweise Klassenfotos oder Videos zu verändern. Von einer schönen Klassenfahrt gibt es ein Foto? Da nimmt jemand eine App, radiert einen Mitschüler förmlich aus - das sieht dann so aus, als wäre er nie da gewesen - und schreibt dazu 'Endlich eine tolle Klassengemeinschaft. Endlich sind wir komplett'. Und das Kind, das einen Außenseiterstatus hat, sieht das auch bei Snapchat, Whatsapp oder möglicherweise sogar als Video bei TikTok. Das ist schwer aushaltbar."
Das Smartphone einfach wegnehmen helfe nicht. Silke Müller fordert Handyverbote in den Schulen, zumindest in den Pausen, und eine Regulierung. "Bei Social Media fordere ich ganz klar eine Regulierung nach dem australischen Vorbild. Vielleicht ist 16 falsch, vielleicht ist 14 richtig - aber mindestens einen späteren Zugang zum Netz."
"Damit wir die Kinder erst einmal langsam auf die Gefahren, aber auch auf die Chancen vorbereiten können. So wie wir es übrigens auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen auch tun: Straßenverkehr, Genuss von alkoholischen Konsumgütern, etc."
Und wie sehen das die Jugendlichen selbst? "Es gibt Tage, wie so am Wochenende oder wenn ich mal krank bin, da würde ich mir schon wünschen, ich wäre weniger am Handy. Aber irgendwie ist man so daran gebunden, man ist halt wirklich süchtig danach geworden, dass es echt schwer ist, sich davon zu lösen. Manchmal wünsche ich mir, ich würde zurück in die 90er oder 80er Jahre kommen. Das wäre schon ganz cool. Mal einfach ganz anders leben. Ich glaube, da würde es auch vielen besser gehen als heutzutage."
"Mach dat Ding aus!" mit Silke Müller in St. Vith
Wer mehr erfahren möchte zum Thema, der kann Silke Müller live erleben. Auf Einladung der CSP Ostbelgien dreht sich ein ganzer Abend um das Thema digitale Welt. Titel des Abends: "Mach dat Ding aus - Wie sicher sind unsere Kinder im Netz?" diesen Mittwoch (9. April) im Kino Corso in St. Vith. Los geht es um 20:00 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Simonne Doepgen