Sechs Lehrlinge aus der Abteilung Einzelhandel des ZAWM Eupen und St. Vith sind am Mittwochmorgen an einer wichtigen Mission beteiligt. Sie müssen ganz bestimmte Produkte in einem Eupener Supermarkt finden.
Das ist aber nicht so einfach, denn sie tragen spezielle Brillen, die unterschiedliche Sehstörungen simulieren.
Mohammad Idrissou, Lehrling im 3. Jahr, hat sich sofort herangewagt und läuft nun mit einem grauen Star durch die Abteilung.
"Die Suche läuft gerade nicht besonders toll. Meine Sicht ist ein wenig eingeschränkt. Ich kann durch die Brille nicht richtig viel sehen. Ich gebe trotzdem mein Bestes. Ich muss zugeben, dass es keine einfache Sache ist."
Die Lehrlinge sind zusammengekommen, um an einem Sense-Workshop teilzunehmen. Sense steht für "Sensibilisierung durch Selbsterfahrung". Die zukünftigen Ladeninhaber sollen wissen, wie es sich anfühlt, mit einer Beeinträchtigung einkaufen zu gehen.
Patrick Dohmen, Vorstandsvorsitzender des Euregio Kompetenzzentrums für Barrierefreiheit (Eukoba) leitet den Sense-Workshop seit vielen Jahren. Für ihn ist der praktische Ansatz die beste Methode der Sensibilisierung. "Wer etwas am eigenen Leib erfahren hat, kann sich besser in die Situation von Betroffenen hineinversetzen."
Die Lehrlinge finden auch heraus, was es bedeutet, blind zu sein. Sie bekommen einen Blindenstock in die Hand gedrückt und eine Skibrille aufgesetzt, die von innen mit Panzerband abgeklebt ist. Ihre Aufgabe: "einfach" durch den Gang laufen. Die Erfahrung, dass dies leichter gesagt ist als getan, macht auch Jessika Kaus aus dem 2. Lehrjahr. "Es ist schon schwer, wenn man nichts sieht und etwas finden muss", stellt sie fest.
Alle sechs Lehrlinge sind sich einig: Durch die Blindheit verlieren sie einen Großteil der Kontrolle und fühlen sich verletzbar.
Dass die Lehrlinge an diesem Workshop teilnehmen, lag den Lehrerinnen des ZAWM sehr am Herzen, erklärt Andrea Bebronne. Sie ist zuständig für die Koordination der Dienstleistungsberufe am ZAWM.
"Ich denke, dass es wichtig ist, dass wir die jungen Leute sensibilisieren. Es gibt nicht nur 'normale' Menschen, sondern auch viele mit Beeinträchtigungen. Oft sind die Beeinträchtigungen auf den ersten Blick gar nicht sichtbar."
Als eine klassische Situation an der Supermarktkasse simuliert wird, kommt auch Strom zum Einsatz. Eine ältere Person fischt mit zitternden Händen Kleingeld aus dem Portemonnaie.
Lehrling Mohammad Idrissou - nun Rentner Idrissou - zieht sich spezielle Handschuhe an, die ihm kleine Elektroschocks zufügen. Konkret wird ein Tremor simuliert. Bei diesem bewegen sich Körperteile zitternd und unwillkürlich. Dass es an der Kasse gelegentlich länger dauern kann - dafür haben nun alle sechs Lehrlinge absolutes Verständnis.
Hunderte Schüler hat Workshop-Leiter Patrick Dohmen bereits sensibilisieren dürfen. Für ihn ist dies eine Herzensangelegenheit.
"Wir merken, dass durch die aktuellen Krisen weltweit das Thema Inklusion und Barrierefreiheit in den Hintergrund rückt. Das ist ein großes Problem und daran müssen wir arbeiten. Das Thema geht uns alle etwas an und wird uns auch die nächsten Jahre zunehmend beschäftigen."
Beschäftigen wird es auch die sechs zukünftigen Einzelhandelskaufleute, die an diesem Vormittag einiges mitgenommen haben. So auch Jessica Rompen und Jana Hansen. "Für uns Schüler war es super, weil wir einfach mal gemerkt haben, wie es für Menschen mit Beeinträchtigungen einfach ist."
"Es war sehr interessant und ich habe heute viel gelernt. Vor allem die Sehschwäche hat mich beeindruckt", sagt Alen Bosten aus dem 2. Lehrjahr, der auch froh ist, dabei gewesen zu sein.
Ob Supermarkt, Modegeschäft oder Spielzeugwarenladen - egal wohin es für die sechs Lehrlinge in Zukunft gehen wird. Menschen mit Beeinträchtigung werden ihre Geschäfte sicherlich gerne besuchen.
Dogan Malicki
Ich bin beeindruckt! Sensibilisierung ist so wichtig! Die "nicht normalen" Menschen sind BESONDERS im positiven Sinn. Und sie sollen ihre Einzigartigkeit nicht verschmähen! Blinde und Menschen mit Sehschwäche (auch ältere Menschen) werden leider oft "vergessen"! Wir, die "Sichtlinge" (eine liebevolle Bezeichnung der Blinden für uns) sollen lernen zu sehen...mit dem Herzen ❤️. Danke für jede Initiative! Ich wünsche mir eine Podiumsdiskussion mit Blinde als Wortführer...