"Meine Damen und Herrn, der BRF überträgt nun die Feierlichkeiten zur Einsetzung des Rates der Deutschsprachigen Gemeinschaft (RDG). Wir schalten um zum Eupener Kaperberg. Reporter vor Ort: Rudolf Kremer und Hans Engels."
"Guten Tag, meine Damen und Herren, hier am Eupener Kaperberg, wo heute der Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft eingesetzt wird, herrscht die Stimmung der ganz großen Tage." Das, so führte der damalige BRF-Reporter und spätere -Direktor Hans Engels aus, sei verständlich, da man diesen Tag wohl als "Meilenstein" in der Geschichte der Deutschsprachigen Gemeinschaft bezeichnen dürfe - wenn auch "mit Abstrichen".
"Es wird zwar ein neuer Rat eingesetzt, doch die Mitglieder bleiben vorerst die gleichen, das heißt bis zur nächsten und ersten RDG-Wahl 1986. Was heute wohl einmalig ist wird die Wahl einer eigenen Exekutive, das heißt einer Mini-Regierung mit drei Mitgliedern für die Deutschsprachige Gemeinschaft sein. Einmalig ist auch, dass diese Wahl erfolgt, bevor das Programm der CSP-PFF-SP-Koalition eigentlich bekannt ist. Aber das wird wohl Thema der zweiten RDG-Sitzung sein", so Hans Engels.
Am 30. Januar 1984 stand der feierliche Symbolcharakter im Vordergrund, schließlich waren neben dem damaligen Premierminister Wilfried Martens auch der Präsident des Senats sowie hohe Vertreter der anderen Gemeinschafts- und Regionalräte geladen. "In der Tat, meine Damen und Herren, großer Bahnhof allenthalben am Eupener Kaperberg. Das deutschsprachige Belgien dürfte wohl noch nie in seiner Geschichte so sehr im öffentlichen Interesse gestanden haben wie gerade heute. Davon zeugt nicht nur die politische Prominenz, die hier in Eupen versammelt ist, sondern wohl auch das Interesse der Medien, die hier schon seit Tagen ihre Vorbereitungen getroffen haben: alleine fünf Fernsehteams aus drei Ländern, darunter das Team der deutschen ARD, des Zweiten Deutschen Fernsehens, das RTBF-Fernsehen, das BRT-Fernsehen und dem Vernehmen nach RTLplus. Wir haben das im Einzelnen nicht mehr alles überprüfen können. Nicht zuletzt sind auch die Hörfunkprogramme der eben genannten Anstalten sowie noch aus Verviers Radiolène und natürlich die Beobachter der geschriebenen Presse überaus zahlreich erschienen aus nah und fern. Es ist eng geworden hier im Ratsgebäude, sodass die Zuschauer und das Gros der Presse die Sitzung von der Cafeteria des RdK auf einem Großbildschirm beobachten können. Bis kurz vor Beginn der Sitzung war im Hause am Kaperberg ein dauerndes Kommen und Gehen zu beobachten. Auch vor dem Gebäude hatten sich zahlreiche Zaungäste eingefunden, um einmal die politische Prominenz aus der Nähe in Augenschein nehmen zu können", sagte damals BRF-Reporter Rudolf Kremer.
Eigene "Exekutive"
Bevor es losging mit dem offiziellen Teil erfuhren die beiden BRF-Reporter und die Hörer von Yves Kreins, ehemaliger juristischer Berater im RdK und als Berater von Justizminister Jean Gol wesentlich an der Ausarbeitung des RDG-Gesetzes beteiligt, was sich damit denn nun ändere - allen voran die eigene "Exekutive". "Eine eigene Exekutive ist eigentlich nichts anderes als eine Miniregierung, eine Teilregierung, deren Mitglieder sofort durch den Rat gewählt werden und auch vor dem Rat verantwortlich sind. Der Rat hat also die Möglichkeit, wenn er nicht mit der Politik der eigenen Exekutive einverstanden ist, ein sogenanntes Misstrauensvotum zu verabschieden und somit die eigene Regierung zum Rücktritt zu zwingen. Dies ist natürlich eine wesentliche Verbesserung im Vergleich zur jetzigen Situation, wo bisher die Exekutive durch nationale Minister wahrgenommen wurde. Und diese nationalen Minister waren selbstverständlich nicht verantwortlich vor dem Rat. Zweite wichtige Neuerung ist die Befugniskraft der Normen, die der Rat verabschieden kann. Bisher hatte der Rat hauptsächlich eine konsultative Funktion, das heißt, dass er im Grunde genommen nichts anderes tun konnte, als der Regierung beziehungsweise dem Parlament Vorschläge zu unterbreiten und diese waren dann frei, sie zu befolgen oder nicht. Das neue Gesetz gibt dem Rat Dekretbefugnis, das heißt die Möglichkeit, eigene Gesetze zu verabschieden, die auch bestehende Gesetze abändern können, was natürlich auch eine sehr wichtige Neuerung im Vergleich zur alten Situation darstellt."
Geleitet wurde die Sitzung vom Ratspräsidenten Manfred Betsch, der am 1. Dezember 1981 für die CSP die Nachfolge von Albert Gehlen angetreten hatte, nachdem dieser zum Kammerabgeordneten in Brüssel gewählt worden war. Betsch sollte fast genau ein Jahr nach Einsetzung des RDG, am 27. Januar 1985, im Alter von nur 51 Jahren sterben. "Wir haben allen Grund, heute Abend ohne jedes Gefühl von Überheblichkeit oder Hochmut stolz zu sein. Wir können stolz sein auf unsere deutsche Sprache und Kultur, stolz auf unseren Staat, der die Voraussetzungen für diese recht weitgehende Autonomie, so wie sie uns gewährt wurde, schaffte. Kurz: Es darf uns mit natürlichem Stolz erfüllen, deutschsprachige Belgier zu sein."
"Grundvoraussetzung für einen guten Start in die erweiterte Autonomie ist neben einem sachlichen und fairen Widerstreit der Meinungen und einem gesunden Wettbewerb der Ideen und Vorstellungen eine enge Zusammenarbeit zwischen Rat und Exekutive. Das bedeutet aber nicht, dass der Rat lediglich Erfüllungsgehilfe der Exekutive ist. Im Gegenteil: Er wird ihre Entwürfe sorgfältig prüfen, sie aktiv mitgestalten und gegebenenfalls ändern. Die Initiativen der Ratsmitglieder, von denen der Rat der deutschen Kulturgemeinschaft bisher lebte, werden auch in Zukunft ihre Bedeutung nicht verlieren. Die Exekutive wird dem Rat seine Verantwortung nicht abnehmen können. Rechenschaft sind wir nämlich ausschließlich jenen schuldig, die uns in diesen Rat gewählt haben. Ich werde streng darüber wachen, dass die Rechte des Rates und seiner Mitglieder nicht angetastet werden. Dass ihm die traditionellen Privilegien einer gesetzgebenden Versammlung jederzeit gewahrt bleiben und dass er unter günstigsten Voraussetzungen eine wirksame Kontrolle der Exekutivgewalt ausüben kann. Dies bedingt unter anderem auch eine materielle Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Fraktionen", sagte Ratspräsident Betsch über das neue, bislang unerprobte Verhältnis zwischen Rat und Exekutive.
Vier Fraktionen im Rat
1984 gab es nur vier Fraktionen im Rat: CSP, PDB, PFF und SP. Als Sprecher der mit neun Mandaten stärksten Fraktion durfte Albert Gehlen den Reigen eröffnen: "Resolut wird die christlich-soziale Fraktion im Rat die Arbeit der vergangenen Jahre fortsetzen, um die Lebensqualität der Menschen, wofür wir zuständig sind, zu erhalten und zu verbessern. Dabei können sich die beiden Koalitionspartner auf unsere Loyalität verlassen. Wir sind uns in der Fraktion bewusst, dass die neue gesetzgebende Arbeit sowohl bürgernah, hohes Einfühlungsvermögen, umfassenden Weitblick wie technisches Fachwissen verlangt. In der Solidarität mit Flamen und Wallonen muss dies sich auch sozial wirtschaftlich positiv auswirken, damit der Weg zur Kulturautonomie nicht zur Sackgasse wird, wo schließlich das Trennende und nicht mehr das Übereinstimmende überwiegt. Bei aller Bescheidenheit darf ich im Namen der Fraktion behaupten: Wir stellen uns optimistisch und zuversichtlich der neuen Herausforderung und Verantwortung. Unsere Deutschsprachige Gemeinschaft hat mehr denn je in Belgien eine echte und verlässliche Zukunftsperspektive."
Kritischer äußerte sich Gerhard Palm als Sprecher der PDB-Fraktion, die seinerzeit immerhin sieben Ratsmitglieder zählte: "Trotz dieses Fortschritts gibt es für uns heute keinen Anlass, von der bestgeschützten Minderheit zu sprechen. Allzu zahlreich sind die Mängel, die Unzulänglichkeiten und Diskriminierungen, mit denen die Situation unserer Gemeinschaft im Allgemeinen und dieser neue Rat im Besonderen behaftet sind und worüber der heutige Festakt in Anwesenheit so zahlreicher Persönlichkeiten hinwegtäuschen könnte. Vorweg sei der undemokratische Makel genannt, mit dem der heutige Start in die neue Selbstständigkeit genau wie vor zehn Jahren behaftet ist. Der Wählerauftrag für die 25 Ratsmitglieder aus dem Jahre 1981, gültig für vier Jahre bis 1985, wurde durch das Gesetz bis Ende 1986 verlängert. Wenn man schon die unserer Auffassung nach sauberste Lösung für diesen Neuanfang, nämlich Neuwahlen, nicht wollte, dann durfte das Mandat nur Gültigkeit haben bis 1985. Es ist außerdem bedauerlich, dass die Zusammensetzung der ersten Exekutive eher einem, wie ein Parlamentarier es nannte, Kuhhandel als einem klaren politischen Konzept entstammt, das in der Anfangsphase eher die verantwortungsvolle Zusammenarbeit aller politischen Kräfte gefordert hätte."
Der PFF-Politiker Fred Evers, wie Albert Gehlen seinerzeit Kammerabgeordneter in Brüssel, sprach von einem "denkwürdigen, um nicht zu sagen historischen Tag" für die Deutschsprachige Gemeinschaft". Er war sich aber gleichzeitig der Fallstricke bewusst, die durch die Kleinheit des Gebietes gegeben sind und die "der lange Fred" auf seine unnachahmliche Weise kommentierte. "Hier kennt jeder jeden. Hier werden in Zukunft Verwaltungsakten auch Nummern und Referenzen tragen. Aber vergessen wir nicht: Jedes Aktenstück wird auch ein Gesicht haben. Hier werden sich nach meiner Auffassung Probleme stellen, deren Lösung in keinem Lehrbuch zu finden sind. Ich bin jedoch fest davon überzeugt, dass wir, wenn auch in einem nicht leichten politischen Prozess mit der nötigen Vernunft, mit Weitblick und in Zusammenarbeit mit den anderen Gemeinschaften alle Hindernisse überwinden werden. (...) Wir, meine Damen und Herren, verfügen ab heute über eine eigene gesetzgebende Versammlung, über eine Exekutive, über einen Präsidenten. Ja zur Vorsicht, meine Damen und Herren, haben wir sogar am Wochenende in Eupen auch noch einen Prinzen gewählt. Zugegeben, einen Karnevalsprinzen. Welche Möglichkeiten fehlen uns eigentlich noch, um gewappnet zu sein, wenn in Belgien das passieren sollte, was wir von der PFF keinesfalls wollen."
Schließlich sprach für die dreiköpfige Fraktion der SP ein junger Abgeordneter von 31 Jahren, der zwei Jahre zuvor erstmals in den Rat gewählt worden war: Karl-Heinz Lambertz. "Das autonome Ostbelgien darf kein ideologisch gleichgeschaltetes Ostbelgien werden. Wir fordern und kämpfen, wenn es sein muss, auch kompromisslos für ein Ostbelgien, in dem die Entfaltung aller Tendenzen nicht nur geduldet, sondern auch gefördert wird. Mit der Einsetzung des Rates und der Wahl der Exekutive ist die Staatsreform für die Deutschsprachige Gemeinschaft zweifellos an einem bemerkenswerten Höhe-, keineswegs jedoch an ihrem Endpunkt angelangt. Wir sind heute an einem wichtigen Etappenziel angekommen und stehen nun an einer Kreuzung, wo uns die Paragrafen drei und vier des Artikels 59ter als Wegweiser für die Fortführung der Reform vor Augen stehen. Der Begriff der maßgeschneiderten Autonomie, der "autonomie à la carte" ist durch die Neufassung von Artikel 59ter Verfassungswirklichkeit geworden und hat kürzlich in der vom Ministerpräsidenten der wallonischen Region, Jean Maurice Dehousse, veranlassten Schaffung einer Kommission zur Überprüfung der Möglichkeiten der Übertragung regionaler Kompetenzen an die Organe der Deutschsprachigen Gemeinschaft bereits konkrete Gestalt angenommen."
Ab 1990 Dreierkoalition
Diese Möglichkeiten sollte Lambertz später als Minister und Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft weidlich nutzen. Er gehörte ab 1990 erstmals einer Regierung an, in einer Dreierkoalition der Sozialisten mit den Christlich-Sozialen und Liberalen, wie sie auch 1984 die erste Exekutive bildete, mit Bruno Fagnoul für die PFF als Vorsitzendem, Joseph Maraite für die CSP und Marcel Lejoly für die SP - alle drei von Beruf Lehrer und vorher durch die Arbeit in Brüsseler Ministerkabinetten geschult und auf die eigenen Regierungsaufgaben vorbereitet. "Gemäß Artikel 60, Paragraf 1 des Gesetzes vom 8. August 1980 wurde eine Liste von drei Kandidaten für die Exekutive seitens der Mitglieder der Fraktionen CSP, PFF und SP übermittelt, aufgrund derer die Herren Fagnoul, Maraite und Lejoly als Mitglieder der Exekutive vorgeschlagen werden. Ich stelle fest, dass diese Liste von der absoluten Mehrheit der Mitglieder des Rates unterschrieben ist. Aufgrund der eben genannten gesetzlichen Bestimmungen gelten die Kandidaten für die Exekutive, die auf einer einzigen, von der absoluten Mehrheit der Mitglieder des Rates unterschriebenen Liste vorgeschlagen werden, als gewählt. (Applaus) Ich bitte nunmehr die Herren Fagnoul , Maraite und Lejoly zu mir zu kommen und den gesetzlich vorgeschriebenen Eid zu leisten."
"Sie haben es gehört, meine Damen und Herren. Die Wahl der Exekutive ist nun sehr rasch über die Bühne gegangen. Jetzt erfolgt die Eidesleistung der drei neuen ostbelgischen Gemeinschaftsminister. Es sind, wie Sie auch gehört haben, für die PFF Bruno Fagnoul, für die CSP Joseph Maraite und für die SP Marcel Lejoly. Zurzeit schwört Bruno Fagnoul den Eid auf die Verfassung", sagte Hans Engels. "Heben Sie die rechte Hand und sprechen Sie mir bitte nach: Ich schwöre. Treue dem König, Gehorsam der Verfassung und den Gesetzen des belgischen Volkes." (Eidesleistung, unterbrochen von Applaus). "Nun, meine Damen und Herren, nachdem nun Bruno Fagnoul, Joseph Maraite und Marcel Lejoly den Eid auf die Verfassung geleistet haben, gelten diese nun als im Amt. Somit haben die deutschsprachigen Belgier zum ersten Mal in ihrer Geschichte drei deutschsprachige Minister", erklärte Rudolf Kremer.
Gut 20 Jahre nach der Einsetzung dieser ersten Exekutive wurde die Zahl der Minister auf vier erhöht und erstmals gehörte mit Isabelle Weykmans (PFF) eine Frau der Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft an. Sie blieb bis heute - und bis zu den kommenden Wahlen. Mittlerweile sind es zwei Frauen: Lydia Klinkenberg folgte im Herbst 2020. Das war am 30. Januar 1984 kein Thema: Damals saß noch nicht einmal eine Frau im neuen Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft.
Stephan Pesch
Zitat aus dem Text :
"...alle drei von Beruf Lehrer..."
Die ganze Autonomie ist das Werk von Lehrern. Aufgrund ihres Berufes sind die es gewohnt, alle wie kleine Kinder zu behandeln. Das erklärt auch die fehlenden direkte Demokratie in der DG.