Beim Abendessen lief der Belgische Hörfunk mit seinen Regionalnachrichten von sechs bis halb sieben, damit die Stille nicht wehtat. Für mich war das ein glücklicher Umstand, denn so konnte ich an einer völkerrechtlich historischen Aktion teilhaben. Und auch Papa, der sich sonst nie für Politik interessierte, entdeckte plötzlich seinen Bürgersinn. Die erste Staatsreform stand an. Das Königreich Belgien, das erst ein paar Jahre zuvor seine Kolonie Kongo durch einen schmerzhaften Kaiserschnitt in die Freiheit entbunden hatte, so drückte es zumindest Opa Leopold aus, wurde in drei Kulturgemeinschaften aufgeteilt. Für die knapp 60.000 deutschsprachigen Belgier ein politischer Erfolg, bedeutete es doch zugleich eine Ohrfeige für die politischen Kräfte vor allem in der Wallonie, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Zwangs-Frankophonisierung des annektierten Ostbelgiens per Dekret vorantreiben wollten. Und nun standen die ersten Wahlen zum Rat der deutschsprachigen Kulturgemeinschaft an. Eine Stimmung wie auf dem Fußballplatz machte sich auch in Crombach breit. Ein eigenes Parlament ist so etwas wie eine eigene Fußballnationalmannschaft. Und mit dieser Reform stand es nun 1:0. Und obwohl der Rat nur über eigene Verordnungen im Kulturbereich entscheiden durfte, aber keine Gesetzesgewalt hatte, war eine gewisse Aufbruchstimmung zu spüren. (Auszug 1 aus "Mon oeil", S. 121)
Sprichwörtlich aus dem Leben gegriffen sind die anschaulichen Beschreibungen in dem quasi-autobiographischen Roman "Mon oeil!", den Marzel Maraite vor vier Jahren veröffentlicht hat und in dem er sein Alter Ego "Mäxchen" die Welt in und um Ostbelgien entdecken und erfahren lässt.
Es ist eine Art Vorgeschichte zur Deutschsprachigen Gemeinschaft. "Ich kann mich gut erinnern. Ich war damals acht, als der Kulturrat eingesetzt wurde. Das war eine ganz schöne Aufbruchstimmung, auch im Dorf. Alle redeten davon. Es war ja so, dass wir als Kinder immer noch genau wussten, wer jetzt im Zweiten Weltkrieg deutsch gewesen ist, wer belgisch gewesen ist."
"Und eine eigene Gemeinschaft zu bekommen und einen eigenen Kulturrat - es war ja noch nicht mal eine politische oder gesetzgebende Institution - war schon sehr spannend." Das fand darum auch Einzug in den Roman. Übrigens ein humorvolles Sittengemälde im zeitlichen Rahmen von Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre - als gesellschaftliche Kontrolle noch nicht über die Social Media lief, sondern über Institutionen wie Kirche und Schule, über das was die Nachbarn wohl denken mögen oder was sie hintenrum freimütig beim Frühschoppen oder beim Frisörbesuch zum Besten geben.
Ich verstand nicht alles, was sich da nun für uns ändern sollte, denn meistens redeten die zum Thema im BHF interviewten Ostbelgier, vornehmlich die designierten Kandidaten für den ersten Rat ziemlich komisches Zeug. Artikel 59ter, Gilson-Gesetz, Dekret-Gewalt und so andere komische Wörter tauchten immer wieder auf, aber es mussten wohl ziemlich wichtige Wörter sein, denn auch am Sonntagmorgen auf dem Frühschoppen, zu dem ich meinen Vater manchmal mitnahm, fielen diese Begriffe, selbst, wenn sie aus dem Mund meines Nachbarn Freddy, der einen großen Teil seiner Lebenszeit auf seinem Traktor verbrachte und auch nach 20 Bieren immer noch nach ranziger Milch roch, etwas von ihrem ursprünglichen Glanz verloren. (…) Es sollte also auf längere Sicht eine eigene, deutschsprachige, ostbelgische Regierung mit eigenen Ministern und, so war es weiter angedacht, eigenen Gesetzen für die deutschsprachigen Belgier geben. Nur einen eigenen König hatte niemand gefordert und wir behielten Baudouin, denn der hatte im Gegensatz zu seinem Vater im Krieg nicht mit den Deutschen gehalten, roch nicht nach ranziger Milch und galt als streng katholisch. (Auszug 2 aus "Mon oeil", S. 121ff.)
Marzel Maraite geht es nicht um Majestätsbeleidigung, auch wenn er in seinem Roman an einer Reihe von alteingesessenen Autoritäten und gesellschaftlichen Konventionen kratzt. Die aufblühende Autonomie findet seine Sympathie - nicht nur wegen der "kurzen Wege". "Die Kultur beschäftigt sich natürlich immer mit der Identität. Wer bin ich? Wo stehe ich überhaupt? Was sind meine kulturellen Wurzeln? Und deswegen bin ich natürlich jemand, der absolut für diese kulturelle Autonomie eintritt."
"Und ich bin auch jemand, der nicht die Bedenken hat, die viele Leute haben, die sagen: Was kostet das alles und so … Ich finde, das sollten wir uns wert sein, eine solche Autonomie zu haben."
Solche Diskussionen konnte und wollte sich die Politik gar nicht leisten. Jetzt, wo der Rat der deutschen Kulturgemeinschaft unter seinem ersten Präsidenten Johann Weynand seine Arbeit in Eupen aufgenommen hatte und im Zuge einer zweiten Staatsreform eine weitgehende Autonomie anstrebte, bei der man selbstverständlich auf das Wohlwollen von Flamen und Wallonen angewiesen war. Denn immer, wenn es auch nur die leisesten Unstimmigkeiten zwischen Wallonen und deutschsprachigen Belgiern gab, kamen die alten Ressentiments wieder zum Vorschein und auf der einen Seite sprach man abfällig von den "Cantons rédimés" und den "sales Boches", die schon wieder großmäulig heim ins Reich strebten, und auf der anderen Seite ereiferten sich die Menschen über die wallonische Schluderei, die Sozis in Namur und den Dreck und die Faulheit der Welschen. Es war schon schwierig genug, den Wallonen zu erklären, dass die Verkehrsschilder, auf denen deutschsprachige politische Aktivisten die französische Schreibweise von Ortschaften unleserlich gemacht hatten, nicht die Sichtweise der Mehrheit Ostbelgiens widerspiegelten. Das war vielleicht sogar so, ich weiß es nicht. Amblève, Hunnange oder Saint-Vith suchte man auf den Schildern vergebens, stattdessen sah man Amel, Hünningen oder St. Vith und einen dicken schwarzen Strich darunter, sogar auf Verkehrsschildern, die man ohne Leiter gar nicht erreichen konnte. So blieb auch allen, Einheimischen und Durchreisenden, das Sprachenproblem immer präsent. (Auszug 3 aus "Mon oeil", S. 240f.)
Marzel Maraite kennt vieles von dem, worüber er schreibt, aus eigener Anschauung. Einen guten Teil seiner Lebenserfahrung hat er als Kulturschaffender gesammelt: als Schauspieler, als Veranstalter und als Theaterregisseur. Beruflich arbeitet er seit einigen Jahren als Lehrer im Großherzogtum Luxemburg.
Wie schaut man da auf die eigenständigen Nachbarn im Norden? "Die Ostbelgier werden eigentlich als Brüder oder Cousins, wie der Luxemburger sagt, wahrgenommen. Das ist ja ein Bonmot eben vom ehemaligen Ministerpräsident Joseph Maraite, der als Cousin vom damaligen Premierminister Jean-Claude Juncker bezeichnet worden ist. Man hat fast dieselbe Sprache, das Moselfränkische, und da ist das Verständnis sehr eng. Obwohl man als Ostbelgier doch auch manchmal das fünfte Rad am Wagen ist. Aber das hat wahrscheinlich andere, monetäre Gründe."
Zu den prägenden Erlebnissen gehörten in Marzel Maraites Kindheit und somit im Roman "Mon oeil!" die Familienausflüge in städtische Umgebungen wie Lüttich oder Brüssel - mit all ihren Fährnissen.
Papa schien sich auszumalen, was geschähe, wenn die Zivilfahnder der mittlerweile auch schon königlichen Straßenbahngesellschaft die ganze Sippe als gemeine Schwarzfahrer hochgehen ließe. "Voilà, les Schleuhs!", hätte es da geheißen. "Zweimal innerhalb kurzer Zeit das Land mit ihren Panzern verwüsten, vom Marshallplan Geld in den Hintern geblasen bekommen und dann noch zu knauserig, die paar Franken für eine Fahrkarte auf den Tisch zu legen. Na toll." Da hätte es auch gar nichts genützt, darauf hinzuweisen, dass man ja als deutschsprachige Belgier eine eigene Kulturgemeinschaft, ein ebenbürtiger Belgier sei. Und damals, als die Deutschen am 10. Mai 1940 einmarschierten, ebenfalls zu den Opfern gehört hatte. "Quoi? Des victimes? Les Schlunz? Mon oeil!" hätte der Mob geschrien und sich "Eil, Eil" und "Allez! Eim ins Reisch" rufend echauffiert. In der Tat passiert es häufiger, dass man in Belgien als Deutschsprachiger ohne Vorwarnung verbal mit den Mitgliedern der herrschenden Klasse der damaligen Aggressoren gleichgestellt wurde, einem subversives Gedankengut unterstellt wurde oder man sich für die materiellen und menschlichen Verluste während des Einmarschs rechtfertigen musste. Vor allem in den Ortschaften nahe der Sprachengrenze, etwa bei Weismes oder Vielsalm, kam es regelmäßig zu blutigen Gesichtspartien in Folge solcher Auseinandersetzungen. (Auszug 4 aus "Mon oeil", S. 288)
Zumindest das sollte inzwischen überwunden sein, oder? Schließlich ist die Gemeinschaftsautonomie wie Marzel Maraites Protagonist Mäxchen den Kinderschuhen längst entwachsen. Mittlerweile Ü50. Und damit verbunden ein neuer Lebensabschnitt? "Ich denke mal, es muss nicht Ziel sein, alle Kompetenzen in jeder möglichen Form zu bekommen, sondern die Kompetenzen, die wir haben, noch auszubauen. Und sich auf jeden Fall nichts vom Kuchen wegnehmen zu lassen, auch jetzt, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten."
Eine Fortsetzung von "Mon oeil!" ist noch nicht da. Dabei gäbe es noch viel zu erzählen.
Stephan Pesch