Mehrere ostbelgische zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich zum Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine mit einem offenen Brief an die belgische Außenministerin Hadja Lahbib gewandt.
Der Brief trägt die Überschrift "Russisches Roulette mit dem Atomkrieg". Unterzeichner sind Attac DG, die Vegder Denkfabrik, Miteinander Teilen, Greenpeace Ostbelgien, die Verbraucherschutzzentrale, der Weltladen St. Vith, der Landfrauenverband Ostbelgien, AVES-Ostkantone, das Vikariat Ostbelgien, Courant d'Air und Alteo. Auch Adrien Nuijten, der überberufliche Sekretär der FGTB Ostbelgien, unterstützt den Brief.
In ihm drücken die Unterzeichner ihre Sorge vor einer drohenden Eskalation des Krieges aus. Es gehe nicht mehr nur um die Ukraine, sondern ums Ganze. Die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs sei deutlich gestiegen, heißt es.
Die Unterzeichner erhoffen sich diplomatische Initiativen für eine Waffenruhe, welche die Tür für Friedensverhandlungen öffne. Diese würden zwar schwierig werden, aber sie seien nicht so unrealistisch, wie vielfach angenommen werde.
Nachfolgend der Brief im vollen Wortlaut:
Sehr geehrte Frau Außenministerin,
in der Ukraine tobt ein furchtbarer Abnutzungskrieg. Und zwar einer mit mittlerweile 200.000 gefallenen und verwundeten Soldaten, mit 50.000 zivilen Toten und mit Millionen von Flüchtlingen.
Russland ist der Aggressor in diesem Krieg. Der russische Angriffskrieg ist völkerrechtswidrig und nichts anderes als ein großes Kriegsverbrechen.
Klar ist auch: Die Ukraine braucht unsere Solidarität. Es ist verständlich, wenn die ukrainische Regierung Waffen fordert, um sich verteidigen zu können. Wären wir an der Stelle des ukrainischen Präsidenten Selensky würden wir das auch fordern.
Nur: Die Logik derjenigen, die sich zu diesem Krieg positionieren müssen, ist nicht identisch mit der Logik der angegriffenen Ukraine. Die Perspektive Belgiens wie auch der EU muss eine andere sein - es gilt die Interessen der eigenen Bürger zu berücksichtigen und eine weitere Eskalation des Krieges zu vermeiden. Mit immer umfangreicheren Waffenlieferungen an die Ukraine besteht die ernste Gefahr des Hineinrutschens in einen großen Krieg.
Dass die EU bzw. Nato in einen Krieg mit Russland geraten, kann nicht ausgeschlossen werden. Kriege folgen einer eigenen Eskalationsdynamik, die weder vorherseh- noch berechenbar ist.
Historische Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, insbesondere aus den Jahren 1962 und 1983, zeigen, dass in einem Kontext extremer Spannung ein Atomkrieg auch dann ausbrechen kann, wenn er von den Staats- und Regierungschefs nicht gewollt wird. In den genannten Jahren 1962 und 1983 verhinderten nur glückliche Zufälle den Dritten Weltkrieg.
Ein Jahr nach dem Ausbruch des Ukrainekrieges besteht kein Zweifel: Die Spannungen sind stark gewachsen. Die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges ist damit deutlich gestiegen. Anders formuliert: Es geht nicht mehr "nur" um die Ukraine, sondern es geht um das Ganze.
Einen totalen Sieg der Ukraine auf dem Schlachtfeld erachten die meisten Militärexperten als unwahrscheinlich. Russland wird sich kaum aus dem Osten des Landes gänzlich zurückziehen und erst recht nicht die strategisch wichtige Krim räumen. Die Ukraine ist aus russischer Sicht existentiell. Die letzten 12 Monate haben gezeigt, dass Moskau bereit ist, einen außerordentlich hohen Preis für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu bezahlen. Eine Niederlage in der Ukraine wird Putin nicht akzeptieren. Viel wahrscheinlicher ist, dass er noch zu drastischeren Maßnahmen greifen wird, wenn er in die Enge getrieben wird.
Oft kann man lesen, dass Putin gar nicht verhandeln wolle. Es würden zudem viele Menschen sterben, wenn wir keine Waffen liefern würden. Und genau deswegen müsse man bei den Waffenlieferungen in die Vollen gehen.
Diese Argumentation finden wir in ihrer Einfachheit höchst bedenklich. Es sterben bei mehr Waffen und einer Fortsetzung des Krieges noch mehr Menschen.
In Abwesenheit einer starken Friedensbewegung in Europa sind es kurioserweise derzeit ranghohe Militärs wie Mark Milley, der Chef des Generalstabs der US-Armee, oder der ehemalige Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, Harald Kujat, die als Mahner auftreten und zu Verhandlungen aufrufen.
Wir möchten Sie mit diesem Schreiben nachdrücklich dazu ermutigen, sich für diplomatische Initiativen für eine Waffenruhe einzusetzen.
Eine Waffenruhe öffnet die Tür für Friedensverhandlungen. Diese dürften zweifellos schwierig werden. Aber sie sind nicht so unrealistisch, wie vielfach angenommen wird.
Wladimir Putin hat am 5. März 2022, nur etwa zwei Wochen nach dem furchtbaren völkerrechtswidrigen Angriff, einer Vermittlungsmission des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett zugestimmt. Ein Kompromiss war nach den Angaben von Bennett möglich.
Ende März wurde dann noch einmal unter Vermittlung des türkischen Präsidenten Erdogan verhandelt. Die Gespräche in Istanbul waren durchaus konstruktiv. Nach allem, was heute bekannt ist, erklärte die Ukraine ihre Bereitschaft, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten. Russland erklärte sich dazu bereit, seine Truppen zurückzuziehen. Der Status der Krim sollte 15 Jahre ohne militärische Intervention offenbleiben. Luhansk und Donezk sollten eine erweiterte Autonomie von der Ukraine erhalten. Russland, China, Israel, Großbritannien und Deutschland sollten als Garantiemächte den Waffenstillstand sichern. Zu einer Einigung kam es jedoch nicht. Am 10. April reiste der damalige britische Premierminister Boris Johnson nach Kiew und verbot der Kiewer Regierung die Umsetzung des Kompromisses. Seit Mai 2022 gibt es keine Friedensgespräche mehr.
Mit dem inzwischen verstorbenen ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt meinen wir, dass es besser ist, 100 Stunden umsonst zu verhandeln, als nur eine Minute aufeinander zu schießen.
Angesichts der existentiellen Bedrohung halten wir es für notwendig, unsere Stimmen zu erheben.
Nüchtern betrachtet sind eine Waffenruhe und baldmöglichste Verhandlungen Gebote der Humanität, um das Leiden der ukrainischen Bevölkerung zu beenden. Die Forderung nach ruhenden Waffen bedeutet dabei keineswegs die Anerkennung der völkerrechtswidrigen Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland.
Außerdem sind eine Waffenruhe und Verhandlungen der einzige Weg, um die gefährliche Rutschbahn in einen Weltkrieg zu verlassen. Alles andere würde bedeuten, russisches Roulette mit der Gefahr eines Atomkrieges zu spielen.
Über eine diplomatische Initiative und eine Antwort auf unser Schreiben würden wir uns freuen!
mitt/fk
Ja wenn es denn so einfach wäre.. die Befürchtungen und Wünsche teile ich ja, aber: die Ukraine hat die Verhandlungen damals auch nach Bekanntwerden des Massakers von Butscha gestoppt.
Und es scheint auch, das eine Waffenruhe genau das ist was Putin benötigt um sich neu zu sortieren und stärker zurückzukommen. Unabhängig davon ob an diesen Befürchtungen was dran ist oder nicht: wer wills der Ukraine übel nehmen das sie sich angesichts dieser Risiken und dem Bewusstsein was in besetzte Gebiete passiert - siehe Butscha - lieber mit allen Mitteln zur Wehr setzt?
Man muss auch bedenken: Putin hat bis Stunden vor dem Angriff behauptet das dieser nicht kommen wird. Die Ukraine führt an, man könne Putin nichts mehr glauben, Verhandlungen daher unnötig und ohne Rückzug aus den besetzten Gebieten gar nicht erst möglich.
Und jetzt? Dürfen wir wirklich erwarten das die Ukraine sich womöglich aufgibt um für uns die Risiken klein zu halten?
Einen Atomkrieg muss man nicht befürchten.Dann müsste Putin mit Vergeltung rechnen.Putin ist brutal aber nicht dumm.
Es ist gut, daß auch zivilgesellschaftliche Organisation sich einschalten.Das bremst die westlichen Hart-Liner etwas, die nur aus Hass auf alles russische agieren.
Ein Modus Vivendi könnte so aussehen, dass Russland sich von allen ukrainischen Gebieten zurückzieht außer der Krim und die Ukraine Gebiete in westlichen Belarus als Ausgleich bekommt.Sodass Russland und die EU weniger gemeinsame Grenzen haben. Anschließend sollte die Ukraine neutral werden wie die Schweiz und als Pufferstaat zwischen Ost und West dienen.Diese Neutralität sollte garantiert werden von allen Atommächten (USA, Russland, Frankreich, Großbritannien, China), ähnlich der belgischen Neutralität vor dem ersten Weltkrieg.Sollte einer die Neutralität verletzen, wäre ein Atomschlag sicher.
Dieser Initiative aus der ostbelgischen Zivilgesellschaft gilt höchster Respekt.
Die Aggression Russlands in der Ukraine ist mit keinem Argument zu verteidigen.
Russland ist aber nun mal unser direkter Nachbar, jedoch politisch etwas anders gestrickt als die hiesigen westlichen Demokratien. Dennoch haben wir ein ureigenes Interesse daran uns mit unseren Nachbarn zu verstehen. Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis in dem die US eine wesentliche Rolle spielen. Die US sind einen ganzen Ozean weit vom derzeitigen Konfliktgebiet entfernt, aber derzeit dort der größte Lieferant von Kriegsgerät. Ein Schelm wer dabei Böses denkt.
Die Nichtmitgliedschaft der Ukraine in der Nato sollte/könnte ein Zugeständnis an den russischen Aggressor sein.
Insofern dem Herrn PUTIN seine Machtfülle erhalten bleiben sollte, kann eine Verhandlungslösung nur eine sein bei der er sich keinen Gesichtsverlust einhandelt. Wenn es um Grenzverlagerungen geht wird es schwierig für die betroffene Bevölkerung, die das Kriegsgeschehen und alle damit verbundenen Gräuel direkt erlebt hat.