Wie bewerten Sie die momentane Situation?
Bewerten ist natürlich irgendwie ein großes Wort. (…) Aber soweit ich das sehe, ist das jetzt der Versuch der russischen Seite, quasi durch diese Gewaltanwendung eine Einflusszone wieder zurückgewinnen und abzusichern, von der man sich seit dem Ende der Sowjetunion einbildet, ein Recht darauf zu haben. Und das schließt eben dann die Ukraine mit ein. Wir haben jetzt quasi die Instrumente, über die Russland verfügt - nämlich schwerpunktmäßig das Militär - im Einsatz.
Hat dieser Konflikt einen politischen oder historischen Hintergrund?
Es ist eine Mischung aus beidem, einfach deswegen, weil man von russischer Seite diese Bedrohung so wahrgenommen hat. Die Entwicklung seit 1990 mit der entsprechenden Ausbreitung der Nato, wo man vonseiten Russlands oder der russischen Führung immer sagt: "Uns wurde was anderes versprochen", was es jetzt nicht schwarz auf weiß gibt, und entsprechend diese historische Entwicklung.
Bis jetzt ist es durchaus etwas, was großes Gewicht hat, auch die Entwicklungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten, was tatsächlich die Reaktion der Russen auf diese Ausbreitung von Nato und EU angeht. 2008 hat Putin den Georgien-Krieg geführt. Das war schon ein deutliches Zeichen, dass Russland eben Georgien nicht in den Einflussbereich des Westens, schon gar nicht der Amerikaner, kommen lassen möchte. 2014 hat Russland die Krim besetzt, das heißt, es gibt eine historische Entwicklung dahin.
Und natürlich spielt Geschichte auch in dem Sinne eine große Rolle, weil Putin eine geschichtspolitische Perspektive auf die Ukraine hat, wo er eben bekannterweise sagt: "Eigentlich ist die Ukraine ja kein eigener Staat, weil die Ukrainer schon immer russisch waren und die Ukraine quasi noch nie selbstständig war", was in der Form auch nicht stimmt.
Und wie ist der Konflikt Ihrer Meinung nach auf der völkerrechtlichen Ebene zu bewerten?
Das ist zumindest aus der Perspektive des üblichen westlichen globalen Völkerrechts ziemlich eindeutig. Russland hat die Souveränität der Ukraine ignoriert, einen anderen Staat militärisch angegriffen und hat noch dazu die territoriale Integrität der Ukraine bereits 2014 verletzt. Mit der illegalen Übernahme der Krim und jetzt auch mit der Anerkennung der beiden abtrünnigen Provinzen, wahrscheinlich auch noch bei der militärischen Unterstützung der Ausweitung des Gebiets dieser abtrünnigen Provinzen. Das sind alles ganz klare Völkerrechtsverstöße.
Und die Russen versuchen jetzt eben da tatsächlich eine andere Interpretation des Völkerrechts ins Feld zu führen, indem sie sagen: "Wir haben erstens historische Ansprüche, wir haben in dem Sinne ethnische Ansprüche", indem sie eben, wie gesagt, der Ukraine das Existenzrecht als Staat quasi absprechen. (…)
Und dann gibt es eben dieses Totschlagargument des "Genozids" in der Ostukraine, was aus unserer Perspektive völlig an den Haaren herbeigezogen ist, aber was natürlich dann, wenn man es ernst nehmen würde - und das tut anscheinend zumindest ein Teil der russischen Führung oder zumindest wird es propagandistisch für die russische Bevölkerung so aufbereitet - dann natürlich auch ein militärisches Eingreifen erlaubt.
Sie sprachen ja eben von dem Genozid. Wie ordnen Sie es ein, wenn Putin solch einen Begriff oder auch Wörter wie "Entnazifizierung" und "Friedensgruppen" gebraucht?
Ich glaube, das ist der Versuch, vor allen Dingen bei der russischen Bevölkerung Verständnis und Unterstützung zu gewinnen. Genozid ist allgemein natürlich ein Begriff, wo mehr oder weniger automatisch Handlungszwang entsteht. Das war ja auch sozusagen das zentrale Argument der Nato, als sie 1990 im Kosovo eingegriffen hat. (…) Das zieht sozusagen als allgemeine Begründung immer, wenn es halbwegs glaubwürdig ist. Und der Verweis auf Nazitum und Faschismus, und der sticht natürlich gerade im russischen Kontext sehr stark vor dem Hintergrund der Erfahrungen und auch des Kults um den Großen Vaterländischen Krieg.
Da kann man dann im Zweifel die russische Bevölkerung durchaus mobilisieren, indem man sagt "Wir müssen uns hier gegen Nazis wehren". Damit haben sie unter normalen Umständen gute Chancen, Unterstützung zu finden, wenn es denn einigermaßen glaubwürdig ist, was hier bei Herrn Selenskyj teilweise ja schon irgendwie absurde Züge hat. Wenn man davon ausgeht, dass er einen jüdischen Hintergrund hat, ihn dann als Nazi zu bezeichnen, ist dann doch irgendwie etwas widersinnig. Und es gibt eben auch keine wirklichen Hinweise darauf, dass das so stimmt. Aber es ist Putin propagandistisch ein wichtiges Argument und ihm dann auch ein formales Argument, irgendwie eine juristisch scheinbar haltbare Position aufzubauen, die dann, so wie man es jetzt auch sieht, vom Rest der Welt ja meistens nicht wirklich für voll genommen wird.
Wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser Krieg auf andere Länder ausbreiten könnte?
Also ich glaube, dass die Eskalations-Gefahr eigentlich relativ gering ist. Die westlichen Staaten, allen voran die Amerikaner, haben von vornherein klar gemacht, dass sie die Ukraine nicht mit Kampftruppen militärisch unterstützen werden, das heißt Herr Biden hat explizit gesagt: "Amerikanische Soldaten werden nicht gegen Russen kämpfen!" Die Europäer können das wahrscheinlich auch gar nicht wirklich. Und entsprechend ist da die Gefahr relativ gering. Es bleibt natürlich immer ein gewisses Restrisiko in zwei Richtungen, dass sich vielleicht irgendwelche Nato-Truppen, die jetzt auch in Osteuropa verstärkt werden, und russische Truppen zu nahe kommen.
Das ausführliche Interview mit Prof. Dr. Ralph Rotte aus dem "Thema am Abend" in BRF Aktuell zum Nachhören:
Defne Özmen