"Nicht Fisch, nicht Fleisch" mögen sich viele gedacht haben - nicht mit Blick aufs Weihnachtsmenü, sondern bei der Bewertung der Beschlüsse aus dem Konzertierungsausschuss.
"Es waren sehr schwierige Debatten", sagt Ministerpräsident Oliver Paasch im BRF-Interview, "und es sind im Kern auch sehr schwierige Entscheidungen, die notwendig wurden, trotz sinkender Coronazahlen. Denn wir sehen am Beispiel von Dänemark und England, dass eine gewaltige Welle auf uns zurollt."
Die Omikron-Variante sei um ein Vielfaches ansteckender als alle bisherigen Sars-Cov-2-Varianten. Daraus könne eine extreme Belastung für das ohnehin schon unter Druck stehende Gesundheitswesen entstehen.
"Mussten präventiv handeln"
"Diese Beschlüsse machen keinen Politiker in Belgien glücklich", fährt Paasch fort, "wir hätten gerne stattdessen Lockerungen verkündet. Aber wir haben auch die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass präventiv gehandelt wird und nicht erst dann, wenn es zu spät ist."
Warum gab es dann nicht einen Lockdown wie in den Niederlanden oder zumindest Kontaktbeschränkungen wie nach den Weihnachtstagen in Deutschland? "Ein Lockdown ist von den Experten zu keinem Zeitpunkt empfohlen worden, weil wir im Gegensatz zu den Niederlanden erstens eine deutlich höhere Impfquote haben und weil zweitens die Anzahl verfügbarer Intensivbetten sehr viel größer ist", erklärt der DG-Ministerpräsident.
"Ich beobachte ja auch immer mit großem Interesse, was unsere anderen Nachbarn Frankreich, Luxemburg und Deutschland tun. Überall werden strenge Maßnahmen ergriffen, aber kein anderer Nachbarstaat als die Niederlande hat einen Lockdown verhängt."
Keine Kontaktblase mehr
Was nun die privaten Kontaktbeschränkungen angeht, habe Belgien keine guten Erfahrungen mit dem Konzept der sogenannten Kontaktblase (französisch "bulle sociale" oder niederländisch "contactbubbel") gemacht. "Die Kontaktblase war nie wirklich kontrollierbar, sie ist dem Motivationsbarometer zufolge von der Bevölkerung auch nie wirklich akzeptiert worden. Und ich glaube nicht, dass eine Verpflichtung, sich mit ein, zwei oder drei Personen zu Hause zu treffen, sehr viel an der Praxis geändert hätte", sagt Paasch.
"Ich zähle da auf die Eigenverantwortung der Menschen. Wir haben alle ein Interesse daran, unsere Kontakte maximal zu beschränken, damit die Omikron-Welle nicht zu einem Zusammenbruch des Gesundheitswesens führt."
Er traue den Menschen durchaus zu, diese Begrenzung im eigenverantwortlichen Rahmen einzuhalten und nicht unnötig Kontakte zu haben.
Die von Paasch angesprochenen Empfehlungen der Experten werden schon vor den Sitzungen des Konzertierungsausschusses öffentlich. So kann dann jeder sehen, was daraus geworden ist. Nun haben sich gerade Experten wie Marc Van Ranst ("Glühwein heeft gewonnen van cultuur") oder Marius Gilbert in der RTBF sehr kritisch geäußert.
Gilbert sprach in einer sehr emotionalen Stellungnahme von einem "Vertrauensverlust" und von einem "Kuhhandel". Oliver Paasch: "Das kann ich ausdrücklich nicht bestätigen. Wir haben im Konzertierungsausschuss einen Beschlussvorschlag zur Kenntnis genommen, den die föderale Regierung ausgearbeitet und nach eigenem Bekunden mit Experten besprochen hatte. Über dieses Beschlusspapier ist diskutiert und am Ende auch entschieden worden."
Nicht gegeneinander ausspielen
Die Virologen, das geht auch aus dem Expertenbericht des GEMS hervor, hätten bei Veranstaltungen einen potenziellen Infektionsherd ausgemacht, da dort viele Menschen zusammenkommen. "Und wenn man sich anschaut, wie ansteckend Omikron derzeit ist, kann man sich vorstellen, dass in einem Veranstaltungssaal mit beispielsweise 200 Personen über die Aerosole das Virus verbreitet wird."
Das auch vor dem Hintergrund, dass Belgien zwar eine sehr hohe Impfquote aufweise, die aber noch nicht ausreichend sei. Außerdem sei nun bekannt, dass die beiden ersten Impfdosen gegen Omikron nur unzureichend schützen und es eine Booster-Impfung brauche. "Derzeit sind nur 30 Prozent der belgischen Bevölkerung ein drittes Mal geimpft. Das ist zwar ein Topwert in Europa, aber nicht ausreichend, um Omikron wirklich zu bekämpfen."
Der Kultursektor und die Betreiber von Kinos verweisen darauf, dass sie schon sehr darauf achten, dass die grundlegenden Abstands- und Hygieneregeln von den Besuchern eingehalten werden, während das auf Veranstaltungen wie Weihnachtsmärkten oder auch im Horeca-Sektor nicht zwangsläufig so kontrolliert ablaufe.
"Das ist richtig", räumt Paasch ein. "Es ist nicht ausgeschlossen worden, dass wenn der Druck auf die Krankenhäuser zunimmt, weitere verschärfende Maßnahmen notwendig sein werden. Ich halte aber nicht viel davon, den einen Sektor gegen den anderen auszuspielen."
Verständnis für den Frust
Die Experten hätten sehr deutlich gemacht, dass da, wo viele Menschen zusammenkommen, die Gefahr am größten sei. Und sie hätten darauf hingewiesen, dass die jetzigen Protokollregeln etwa im Kultursektor nicht ausreichend sein werden, um eine deutliche Beschleunigung des Infektionsgeschehens einzubremsen.
"Man hat im Horeca-Sektor sicherlich die Möglichkeit, mit Sechsertischen und Abstandsregeln durchaus einen Schutzschild aufzubauen. Ob das am Ende gegen Omikron ausreicht, kann heute niemand sagen", so Oliver Paasch weiter.
"Aber auf Veranstaltungen ist es naturgemäß so, dass eben mehr Menschen nicht an Sechsertischen zusammenkommen. Ich habe aber großes Verständnis, das will ich ausdrücklich hervorheben, für den Frust, die Wut, die Enttäuschung des gesamten Kultursektors. Der Kultursektor hat mit am meisten gelitten in den letzten 20 Monaten und ist dann auch noch derjenige, der jetzt, wo Omikron vor der Tür steht, unmittelbar getroffen wird."
Die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft habe noch am Donnerstag entschieden, weitere Hilfspakete auf den Weg zu bringen für die Kinos, für den Kultursektor, auch für die Wohn- und -pflegezentren und die Kinderbetreuung. "Ich habe Verständnis für die Wut, aber ich kann im Moment die Situation auch nicht ändern. Wir müssen präventiv handeln. Und ich hoffe natürlich, dass wir in absehbarer Zeit den Kultursektor wieder öffnen und uns wieder auf den Weg von Lockerungen begeben können."
Monitoring soll Aufschluss geben
Anfang Januar werde es ein sogenanntes Monitoring geben: "Das heißt, die Virologen werden versuchen, noch offene Fragen zu beantworten, die mit der Omikron-Variante zu tun haben. Mittlerweile ist noch immer nicht gesichert: Welchen Einfluss haben die umgekehrten Infektionen auf die Krankenhäuser bzw. wie viele schwere Krankenverläufe wird man erleben im Proporz zu dieser explosiv ansteigenden Anzahl von Infektionen?" So gebe es Studienergebnisse aus Großbritannien, die auf einen milderen Krankheitsverlauf hindeuten und andere aus Dänemark, die das Gegenteil aussagen.
"Man ist mit dieser Variante noch immer dabei, einige Unklarheiten zu beseitigen, die aber sehr dringend beseitigt werden müssen, um wirklich zu wissen, wie wir in den nächsten Wochen werden handeln können. Auf dieser Grundlage wird dann (voraussichtlich am 14. Januar) der Konzertierungsausschuss womöglich neue Beschlüsse in die eine oder andere Richtung ergreifen können."
Das Problem betreffe ja nicht Belgien alleine. "Wir befinden uns in einem internationalen Netzwerk und wir haben ja gesehen, dass in Deutschland, Frankreich, Luxemburg dieselben Fragen auftauchen und auch dort noch keine Antworten vorliegen. Wir werden das also gemeinsam mit unseren Nachbarn, gemeinsam eigentlich mit der gesamten Europäischen Union zu bewerten haben."
Gastgeber Paasch verlangt Selbsttest
Nun stehen die Weihnachtstage bevor. Anders als im vorigen Jahr wird es keine strengen Kontaktbeschränkungen geben. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass gerade auch im privaten Umfeld die Möglichkeit der Ansteckung gegeben ist.
"Ich empfehle, die Kontakte so weit wie möglich einzugrenzen, keine übertriebenen privaten Feiern zu Hause zu organisieren, weil wir eben alle irgendwo eine Mitverantwortung tragen für die Entwicklung der kommenden Tage. Wir können alle unseren ganz persönlichen Beitrag dazu leisten, das Infektionsgeschehen einzudämmen. Aber wir müssen Weihnachten nicht mit einer einzigen Person feiern, wie das letztes Jahr der Fall war, sondern können das schon im Familienkreise tun."
Selbst hat Oliver Paasch einige Familienmitglieder zu sich nach Hause eingeladen. "Ich werde von allen, die zu mir kommen, einen Selbsttest verlangen. Ich möchte sicherstellen, dass meine Eltern, die ja schon ein bestimmtes Alter haben, nicht angesteckt werden. Und dabei kann die Durchführung eines Schnelltests für alle Teilnehmer ein hilfreiches Instrument sein. Das nutze ich. Ich würde anderen empfehlen, das auch zu tun."
Stephan Pesch