Pünktlich zum Katharinenmarkt hat Joseph Spoden nun sein Buch über Silvio Gesell vorgestellt. Im "Thema am Abend" am Dienstag zeichnet Stephan Pesch nach, wie es dazu gekommen ist und was Joseph Spoden bei seinen Recherchen sonst so herausgefunden hat.
In einem Lied von Rio Reiser heißt es: "Geld macht nicht glücklich, es beruhigt nur die Nerven und man muss es schon besitzen, ums zum Fenster rauszuwerfen ..." Ganz so einfach wie bei Rio Reiser ist es nicht mit dem Geld. Und auch nicht mit der Freigeldtheorie oder Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell. Joseph Spoden, pensionierter Lehrer und passionierter Stadtführer in St. Vith, hat sich seit einigen Jahren intensiv mit diesem berühmten "Sohn der Stadt" und seinen Gedanken beschäftigt:
"Und dann kam ja letztes Jahr die Krise, die uns auch alle ausbremste, dieser Lockdown, wo wir vieles andere nicht mehr tun konnten. Und dann hatte ich mir gedacht: Jetzt wäre die Zeit, nicht nur ihn, sondern ganz einfach die Lösungswege, die er gesucht hat, noch einmal unters Volk zu bringen. Nicht damit sie eins zu eins übersetzt oder übernommen würden, sondern ganz einfach, weil da Impulse drin sind, die man auch für andere Krisenlösungen nochmal jetzt gebrauchen kann."
Joseph Spoden denkt dabei an die Wirtschafts- und Finanzkrise. Aber auch an Versuche mit Komplementärwährungen, wie sie unter anderem der belgische Finanzexperte Bernard Lietaer propagierte - wohlgemerkt als Ergänzung: "Der hatte sich auch schon auf Silvio Gesell bezogen, dann aber eines Tages gesagt: Gebt mir ein Problem und ich schaffe euch eine Währung, die das Problem löst. Da dachte ich mir: Das ist schon ganz schön mutig. Und dann habe ich mich mit der Stadt Gent und dem, was er da gemacht hat, auseinandergesetzt und festgestellt: Das funktioniert wirklich."
Wie Werner Onken, Herausgeber der 18-bändigen Gesamtausgabe zu Silvio Gesell schreibt, hatte sich dieser autodikaktisch in die Werke großer Ökonomen vertieft wie Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx oder des französischen Sozialreformers Pierre Proudhon, in die Schriften von Charles Darwin oder Friedrich Nietzsche. Er verglich deren Aussagen, wie Onken schreibt: „selbstkritisch“ mit den eigenen Überlegungen. Neben seiner Geldtheorie entwickelte Silvio Gesell Forderungen nach einer Bodenrechtsreform: eine „natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“. 1922 schrieb er in einem Brief an Fritz Heberlein: „Der Eiffelturm war, als er errichtet wurde, für die Betrachtung von Paris offenbar ein neuer Standpunkt. Ähnlich ist es mit Freiland-Freigeld. Ein neuer Standpunkt für das Gesellschaftsleben der Menschheit.“ (Brief an Fritz Heberlein vom 14.11.1922 aus Berlin, in: Band 18, S. 26)
Als Sohn eines preußischen Beamten in St. Vith geboren erlernte der junge Silvio Gesell in der Firma seiner älteren Brüder in Berlin den Beruf des Kaufmanns, war deren Korrespondent in Malaga und landete nach Stationen in Braunschweig und Hamburg schließlich in Buenos Aires, wo er sich selbständig machte und eine Filiale des in Berlin von seinen Brüdern geführten Geschäfts eröffnete. Er importierte Gehhilfen, Verbände und anderes medizinisches Gerät und belieferte Ärzte und Krankenhäuser. Und kam auch zu einigem Wohlstand ... Als um 1890 in Argentinien eine schwere Wirtschaftskrise mit Unruhen ausbrach, begann Gesell nachzudenken über deren Ursachen, über Inflation und Deflation und über die Rolle des Geldes. Und er stellte fest, dass es zwei Funktionen hat: ursprünglich ein Tauschmittel, zugleich aber dient es der Wertaufbewahrung, weil es im Unterschied zu anderen Waren nicht verdirbt. Und darum gehortet und dem Wirtschaftskreislauf entzogen wird.
"Der Staat baut Straßen für die Beförderung der Waren und er verfertigt Geld für den Tausch der Waren. Und wie der Staat verlangt, dass niemand eine belebte Straße durch zu langsames Fahren mit Ochsenkarren versperre, so muss er auch verlangen, dass niemand den Tausch durch Festhalten des Geldes unterbreche oder verzögere. Wer dennoch solche Rücksichtslosigkeiten begeht, soll bestraft werden.“ (Silvio Gesell in „Die Natürliche Wirtschaftsordnung“ (1920), in: Band 11, S. 200)
Sein Vorschlag: Geld, das „rostet“, das also mit der Zeit an Wert verliert. So formulierte er etwa 1891 in seiner Schrift „Nervus rerum“: „Der Rost wird die Spürnase der Banknoten sein, womit sie die Waren - und wenn sie noch so versteckt sind - auffinden wird. Der Rost wird den Geldinhabern keine Ruhe lassen, bis sie das Geld in irgendeiner Ware sichergestellt haben. Rostende Banknoten gleichen Angebot und Nachfrage stets aus - zu allen Zeiten, im Krieg wie im Frieden, im Glück und Unglück und unter allen Umständen.“ (Silvio Gesell: Nervus rerum in: Band 1, S. 111-113)
Im Laufe seiner Recherchen hat Joseph Spoden in Argentinien eine noch lebende Tochter von Silvio Gesell ausfindig gemacht: Sonja Tomys, mittlerweile 93 Jahre alt. "Meine ersten Mails - ich wusste ja nicht: Spricht sie spanisch? Spricht sie deutsch? - da habe ich noch mühsam versucht, die Briefe, die ich geschrieben habe auf spanisch zu übersetzen. Und dann kommt die erste Antwort in deutscher Sprache. Da wusste ich, dass wenn ich sie zu packen bekäme, dass es sprachlich ein Leichtes wäre, mit ihr in Kontakt zu treten."
Sonja Tomys lebt in Villa Gesell, einer Stadt, die von Gesells Sohn Carlos gegründet wurde. In einem späteren Telefoninterview fragte Joseph Spoden sie nach persönlichen Erinnerungen an ihren Vater. Sonja Tomys antwortete: "Also persönliche Erinnerungen: nur ein ganz verwischtes Bild, dass er mich auf den Schultern trug und ich mich an seinem Kopf festhielt. Das ist auch alles. Ich war zwei Jahre geworden im November …“
Silvio Gesell starb im folgenden März 1930. Auch von der Todesnachricht ist Sonja Tomys noch ein Bild in Erinnerung - viel mehr aber nicht. Joseph Spoden: "Ja, sie sagte mir, ihre Mutter hat ihr nur sporadisch das ein oder andere über ihren Vater erzählt. Denn sie sind ja 1935 aus der Genossenschaft Oranienburg-Eden bei Berlin weggezogen nach Villa Gesell, weil die Verhältnisse in Deutschland ihnen zu gefährlich wurden und die Mutter wollte ganz einfach ihre Kinder in Sicherheit bringen."
Silvio Gesell, so wird Sonja Tomys es später rekonstruieren, habe das alles frühzeitig kommen sehen. "Mein Vater hat gleich nach dem Krieg 1918 einen Brief an die 'Berliner Zeitung am Mittag' geschrieben", so Tomys. "Darin schrieb er, es tue ihm leid, aber er müsse sagen, dass in kurzer Zeit die Wirtschaft alle Verluste aufholen würde, dass es dann zu einer neuen Krise komme und diese zu einem neuen Krieg führen würde. Und er hat auch die Zeiten genau angegeben."
Sie selbst hat sich erst ab dem Erwachsenenalter mit dem Leben und Werk ihres Vaters auseinandergesetzt: "Ich war etwa 18 Jahre, als mir klar wurde, dass ich gar nichts von ihm wusste - außer, was Mama so erzählt hatte. Und dann habe ich angefangen sein Buch zu lesen, um zu wissen, wer er war. Und dann hat es mich gefangen."
Sonja Tomys hat sich im Laufe der Zeit zu einer Expertin der Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell entwickelt, was Joseph Spoden nachhaltig beeindruckt hat: "Sie hat mir ja gesagt, auch sie hat seine Schriften gelesen, aber das liest sich nicht wie ein Roman. Also man muss verschiedene Passagen mehrere Male lesen, versuchen, sie durch Beispiele ein bisschen leichter verständlich zu machen, um in seine Kernaussagen von Freiland und Freigeld tiefer eindringen zu können."
Eine Art Einführung lieferte Sonja Tomys innerhalb des knapp halbstündigen Gesprächs. Und klang dabei ähnlich überzeugt wie ihr Vater: "Das Geld solle zwei Dinge erfüllen: Es soll ein ideales Tauschmittel sein und ein ideales Sparmittel. Und das geht nicht. Die beiden Dinge stehen sich entgegen."
Diese Gedanken versucht Sonja Tomys auch in ihrem Alltag zu vermitteln: "Wenn wir in der Schlange standen in der Bank, bis wir dran kamen, dann habe ich meine Umgebung damit bekannt gemacht. Ich habe immer wieder gemerkt, wie rasch die Leute begriffen. Während die Leute, die Papas Lehre in der Universität überflogen haben sozusagen, die stolpern darüber, dass das Geld ja für sie das beste Sparmittel ist."
Und weiter: "Es ist leichter, einem unbefangenen Menschen zu erklären, was Papa eigentlich wollte. Die Fachleute, die stolpern alle über den Grundsatz, den die Wirtschaft hat. Nämlich: das Geld sei Wertaufbewahrungsmittel. Das kann es nicht sein, denn Wert ist keine Eigenschaft der Dinge. Der Wert wird dadurch bestimmt, dass der Käufer es haben will. Er möchte gerne etwas kaufen. Je nachdem wie stark der Wunsch ist, das zu erwerben, wird der Preis steigen. Der Preis wird bei jedem Tausch neu festgestellt. Der Preis bestimmt also den Wert in dem Moment, wo jemand etwas kauft und bezahlt."
Joseph Spoden sagt: " Ich hätte noch Stunden mit ihr reden können, so interessiert und begeistert war sie dabei. Und, was ich an diesem Gespräch so wichtig finde ist, dass wir jetzt einen letzten direkten Nachfahren von Silvio Gesell noch im O-Ton erhalten haben."
Und auch Sonja Tomys ist daran gelegen, dass die Gedanken ihres Vaters nicht in Vergessenheit geraten: "Ich habe viel gelesen, aber mein Vater hat unendlich viel geschrieben. Er hat geschrieben, damit die Idee an sich erhalten bliebe, bis man sie einführen könnte - und jetzt wäre die Zeit."
„Unsere Sache ist nur zum kleinsten Teil Sache des Geldes. Viel wichtiger als das Geld ist für uns Zeit. Wenn wir wieder ruhigere Zeiten hätten wie etwa vor dem Kriege, so würde es mir nichts ausmachen, wenn die Freiwirtschaft erst in 50 oder 100 Jahren zur Verwirklichung käme. Hauptsache ist, dass diese Lehre vor dem Untergang geschützt wird und dass sie, wenn auch langsam, dann aber umso sicherer, sich Bahn bricht.“ (Brief an Carlos und Martha Gesell vom 8.2.1923 aus Rehbrücke bei Potsdam, in: Band 18, S. 265)
Joseph Spoden: "Man kann seine Lösungswerkzeuge von 1890 nicht einfach auf 2021 übertragen. Seitdem sind 130 Jahre vergangen, die Welt hat ganz andere Turbulenzen erlebt, aber es sind immer noch Impulse da, die man auch in unsere jetzigen Krisen hineininterpretieren könnte, um Lösungswege herauszuarbeiten."
Sonja Tomys: "Jetzt sind es fast 3000 Jahre, dass wir erwarten, dass das Geldwesen funktioniert und das tut es nicht. Hier sagt man: Man erwartet Birnen von der Ulme ..."
Joseph Spoden: "Bei dem Gespräch am 8. September lässt Frau Tomys direkt auch schon irgendeinen Vergleich einfließen. Und als ich sie darauf ansprach, dass das etwas war, das ihren Vater auszeichnete, da sagte sie mir: Er hat ja auch zwei Jahre im arabisch geprägten Südspanien gelebt und die Araber waren gewohnt, in Bildern zu sprechen, um es deutlicher und einfach verständlich den Menschen nahe zu bringen."
Genau das versucht auch Joseph Spoden mit seinem Buch über Silvio Gesell, einem „Silvio Gesell für jedermann“ - was ihm auch von dem ausgewiesenen Gesell-Kenner Werner Onken bescheinigt wurde: "... also für die unterschiedlichsten Menschen verständlich. Das wollte ich auch. Denn zuerst einmal wäre ich nicht imstande, eine Lehre Gesells für Ökonomen zu schreiben, und das brauchte ich auch nicht, denn deren gibt es genug."
Dem pensionierten Lehrer und passionierten Stadtführer Joseph Spoden ist daran gelegen, dass der weitgereiste und häufig zitierte Prophet auch im eigenen Land etwas gilt - zumal ihm selbst an seiner Heimat viel gelegen war, wie seine Tochter unterstreicht. Sonja Tomys: "Mein Vater hat immer gerne an die Eifel zurückgedacht. Und er ist auch öfter inkognito dort gewesen, besonders in der Gegend von Pont, wo sie lange Jahre in einem großen verlassenen Haus wohnten."
Einen persönlichen Wunsch hat Sonja Tomys zum Abschluss des Gespräches mit Joseph Spoden dann noch: "Ich wünsche uns, hier in Villa Gesell, St. Vith in Belgien und der ganzen Welt, dass Silvio Gesell verstanden wird..."
Das Buch „Silvio Gesell und … gesell dich dazu!“ von Joseph Spoden ist zum Preis von 28 Euro erhältlich im Buchhandel, beim Tourist Info St. Vith und bei ihm persönlich.
Stephan Pesch