"Ganz große Bombenanschläge - etwas, was ich in meinem Leben noch nie mitgemacht habe. Das ging abends um 20 Uhr los und dauerte die ganze Nacht bis zum nächsten Morgen um 8 Uhr. Bomben an einem Stück." Was Bernard Keutgens hier schildert, ist vor wenigen Wochen geschehen. Zum ersten Mal hat er den Krieg in Syrien so hautnah erlebt.
Keutgens lebt seit zwei Jahren in Aleppo. Bei einem Ferienaufenthalt hatten ihn die Menschen und das Land zutiefst beeindruckt. "Als ich 2017 zum ersten Mal dort war, war ich schockiert, dass so viele Menschen das Land verlassen wollten. Oft dachte ich, dass das doch nicht die einzige Lösung sein kann. Man sollte eigentlich versuchen, die Nöte und Wunden der Menschen vor Ort zu behandeln."
Im Februar 2018 ließ sich Bernard Keutgens in Aleppo nieder. Er lebt dort in einer Gemeinschaft der katholischen Fokolar-Bewegung - zusammen mit drei Syrern und einem Brasilianer - die ihm auch als Übersetzer für Arabisch zur Seite stehen. In Syrien gehören insgesamt 700 Menschen zur dieser geistlichen Laienbewegung.
Als Familientherapeut kümmert Keutgens sich um Menschen aller Altersgruppen. Sowohl in Aleppo als auch in anderen syrischen Städten wird seine Hilfe gebraucht. "Eigentlich ist jeder ganz tief verwundet", sagt Keutgens. "Bei Kindern und Jugendlichen stelle ich mir oft die Frage, wie sie zur Ruhe kommen können und wie die Zukunft aussehen kann. Nach neun Jahren Krieg haben viele die Hoffnung verloren. Und wenn man keine Hoffnung mehr hat, wird es schwierig. Es geht also auch darum, einen neuen Sinn zu finden. Dafür hat man oft andere Menschen nötig: Menschen, die einen begreifen und mitleben".
Schwieriger Alltag
Bernard Keutgens lebt mit ihnen - mitten im Zentrum. Er teilt mit den Menschen den Alltag, der auch in Zeiten des Krieges weitergeht - so wie nach den Bombenangriffen vor einigen Wochen.
Mit den wenigen Möglichkeiten, die sie haben, beschreibt Bernard Keutgens die Schwierigkeiten der Menschen. Der Alltag in Aleppo ist nicht einfach. "Es gibt keine Arbeit und nur sehr wenig finanzielle Mittel. Man versucht vor allen Dingen, den Alltag, den heutigen Moment anzupacken - mit den Problemen, die wir heute haben."
Dabei leben die Menschen mit den Risiken des Krieges. Auch Bernard Keutgens hat gelernt, damit umzugehen. Trotz aller Gefahren habe er sich in Aleppo nie unsicher gefühlt.
Vor Ausbruch des Bürgerkrieges im März 2011 war Aleppo Syriens wichtigste Handelsmetropole. Der Krieg hat weite Teile der historischen Stadt zerstört. Ankündigungen wie die Öffnung des Flughafens vor wenigen Wochen machen den Menschen Hoffnung.
Suche nach Perspektiven
Vor allem junge Syrer suchen nach Perspektiven - so die Erfahrung von Bernard Keutgens. Sie stehen vor der Frage: bleiben oder das Land verlassen? Mit seinen Projekten versucht der Familientherapeut, die Menschen zu unterstützen - über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg.
Doch auch Bernard Keutgens stößt an seine Grenzen. "Hier weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Man sieht so viele Probleme, dass man oft selbst einen Rat nötig hat. Das ist gar nicht so einfach", sagt Keutgens. "Ein Haus kann man schnell aufbauen oder einen Souq, aber einen Menschen wieder aufzurichten, ist eine ganz andere Sache."
"Europa hat Syrien im Stich gelassen"
"Europa hat Syrien im Stich gelassen. Jeder hat sie im Stich gelassen. Und das ist eine der allergrößten Wunden", sagt Keutgens. "Immer wieder werde ich gefragt, wie es kommt, dass ich hier bin. Sie sind so froh, dass jemand kommt, weil sie spüren, dass ihre Sorgen und Nöte nicht nach außen getragen wurden. Das ist Kriegsspiel, das ist Strategie. Aber eigentlich möchten die Leute ihre tiefsten Nöte auch mitteilen. In meinen Augen gibt es nicht nur ein wirtschaftliches Embargo, sondern auch ein Embargo kultureller, akademischer und psychologischer Art. Diese Aspekte müssten wir auch übersteigen."
Besonders am Herzen liegt Bernard Keutgens die Situation der Flüchtlinge. "Syrien hat fünf bis sechs Millionen Flüchtlinge in den umliegenden Ländern und Europa. Das ist dramatisch. Ich denke immer wieder, was man hätte machen sollen, damit es nicht soweit gekommen wäre und die Leute nicht hätten flüchten müssen", so Keutgens. "Wir müssten uns um die Interessen der Bevölkerung kümmern, die Menschen vor Augen haben."
Nächsten Sonntag reist Bernard Keutgens zurück nach Syrien. Er will noch einige Jahre in Aleppo bleiben - trotz aller Einschränkungen und Risiken. "Wir leben in einer schrecklichen, aber auch herrlichen Welt. Und ich bin froh, dass ich diese Chance habe, mit den Leuten dort vor Ort leben zu dürfen."
mb/mg
Sehr informativ und ergreifend -Danke für seinen Mut und Courage