Die parlamentarische Demokratie und die direkte Teilhabe der Bürger an Entscheidungsfindungsprozessen sind zwei Seiten einer Medaille. So umschrieb es PDG-Präsident Karl-Heinz Lambertz bei der Einsetzung des ersten Bürgerrates in Ostbelgien. Das Interesse an diesem Modell im "Laboratorium" Ostbelgien ist groß. Mittelfristig sollen dem Bürgerrat nur Bürger angehören, die schon an einer Bürgerversammlung teilgenommen haben und somit wissen, wie der Bürgerdialog abläuft.
Für den Start musste man sich etwas einfallen lassen. "Zuerst haben wir tausend Bürger per Zufallsprinzip ausgelost", erklärt Anna Stuers, die Ständige Sekretärin des Bürgerdialogs. "Die konnten sich melden, ob sie mitmachen wollten oder nicht. 115 haben sich gemeldet, um mitzumachen. Unter diesen haben wir zwölf ausgewählt, auf Basis von Quoten wie Geschlecht und Alter, damit der Bürgerdialog möglichst repräsentativ ist."
Zu denjenigen, die vor einem halben Jahr noch nicht geahnt hätten, dass sie bei diesem denkwürdigen Ereignis eine aktive Rolle spielen würden, gehört Didier Lejeune aus Alster. Auch er war im Sommer angeschrieben worden. "Ich habe dann erst mal geschaut, fand es aber gleich sehr interessant. Mich hat von Anfang an begeistert, dass man sich einbringen kann, ohne dass man politisch aktiv werden muss. Das gefällt mir und darum habe ich positiv darauf geantwortet."
Dem ersten Bürgerrat gehören auch sechs Mitglieder an, die schon 2017 am Bürgerforum zur Kinderbetreuung teilgenommen hatten, wie etwa Edith Bong. "Die Erfahrungen waren sehr gut, es war ein sehr interessanter Bürgerdialog mit vielen positiven Erfahrungen", sagt sie. "Darum bin ich wieder hier, weil es mich motiviert hat, wieder dabei zu sein."
Und um die Zahl von 24 Mitgliedern voll zu machen, wurden noch einmal sechs von den im PDG vertretenen Fraktionen vorgeschlagen, wie Stephan Depreeuw. "Die sechs Fraktionen durften jeweils einen bestimmen, der während der ersten Periode dabei ist und dann ausgetauscht wird gegen Gezogene. Die SP-Fraktion ist auf mich zugekommen, ob ich Interesse daran hätte und ich habe zugestimmt."
Nach der offiziellen Vorstellung ließen die 24 Mitglieder des Bürgerrates nicht unnötig Zeit verstreichen. Sie stürzten sich gleich in die Arbeit. "Heute steht auf der Tagesordnung, die eigene Arbeitsweise festzulegen, d.h. wie oft sich der Bürgerrat trifft", erklärt Anna Stuers. "Aber es wir auch schon festgelegt, welche Regeln Bürger einhalten müssen, die einen Themenvorschlag für die Bürgerversammlung hinterlegen möchten. Jeder Einwohner von Ostbelgien kann einen Themenvorschlag hinterlegen." Die genauen Bedingungen dafür werden der Öffentlichkeit noch mitgeteilt.
In die neuen Formen der Bürgerbeteiligung sind jedenfalls hohe Erwartungen gesetzt, das wissen auch die Beteiligten, wie Marion Decker aus Eupen. "Ich hoffe auf viele neue Ideen für Ostbelgien und dass viele Bürger ihre Vorschläge an uns weiterreichen. Ich weiß, dass wir gut beobachtet werden und wir hoffen, dass wir den Herausforderungen gerecht werden."
Denn schließlich sollen die Empfehlungen, die aus dem Bürgerdialog hervorgehen, von der Politik umgesetzt werden können. Michael Schult war ebenfalls schon 2017 beim Bürgerforum für Kinderbetreuung dabei. "Auch wenn wir keine Gesetzgebung machen, wir können mit unseren Worten und Ideen aber vielleicht etwas ergänzen oder verändern. Wir setzen uns heute zum ersten Mal zusammen und dann sehen wir alles Weitere."
Das Mandat im Bürgerrat dauert maximal anderthalb Jahre. Alle sechs Monate wird er zu einem Drittel erneuert, damit immer wieder frische Ideen hineinkommen. "Das ist der offizielle Startschuss, jetzt geht's los, jetzt geht's ans Eingemachte", freut sich Anna Stuers.
Stephan Pesch
Es ist die falsche Reaktion auf ein grosses Problem. Naehmlich dem Wunsch nach mehr direkter Demokratie nach schweizer Vorbild. Dieser sogenannte Buergerdialog erinnert mich eher an eine mittelalterliche Staendeversammlung bestehend aus Klerus, Adel und Buergertum. Und mit einer Idee von gestern kann man keine Probleme von morgen loesen. Da muss schon was besseres kommen, naehmlich wie gesagt direkte Demokratie. Und wenn der Parlamentarismus sich nicht grundlegend reformiert, wird er von der Bildflaeche verschieden wie der Kommunismus vor 30 Jahren.
Hier wird auf keinen Fall die sehr konservative Schweiz kopiert, sondern ein Modell ausprobiert, in dem politisch interessierte Laien Ihre Meinungen und Vorstellungen formulieren. Dann merken diese erstmal, das alles viel komplizierter ist und verschiedene Gruppen andere Bedürfnisse haben. Daß ungeschulte nur Demagogen hinterherlaufen, ist gegenwärtig im Überfluss zu beobachten. Warum ziehen Sie eigentlich nicht in ihr Paradis , Herr Scholzen. Jeden Tag direkte Demokratie, das muß doch Ihr Lebenstraum sein !
Was hier ausprobiert wird, ist nichts neues und nichts demokratisches.
es ist ein Prinzip des "demokratischen Sozialismus", die eine Volksherrschaft mit Hilfe von "Räten" vorgaukelt.
Willkommen in der Räterepublik 2.0
entweder hat man Demokratie oder Sozialismus, aber beides zusammen gibt es nicht.
Die ostbelgische Polit-Landschaft ist nun wieder up-to-date: alle Parteien haben genug Systemapparatschiks, alle sind in vielen Themen gleichgeschaltet. Manche Polit-bereiche haben sinnlose Ethik-Kommissionen, und wir haben nun eben einen Bürgerrat.
Was kommt als nächstes: ein Klima-Rat? Wetten, dass...
Werte Frau van Straelen. Mir gefaellt es in Ostbelgien. Ich zitiere deshalb so gern das schweizer Demokratiemodell, weil es ganz einfach funktioniert und Ich orientiere mich lieber an einer erprobten Sache. Und im Gegensatz zu Belgien ist die Schweiz ein wirtschaftlich und politisch stabiler Staat. Dort gibt es keine Abspaltungsideen wie in Flandern. Und aufgrund der in der Schweiz praktizierten direkten Demokratie gibt es dort mehr Nationalstolz als in Belgien.
Das Wort "Buerger" wird hier missbraucht genau wie das Wort "Demokratisch" in der DDR. Man sollte besser von einer Untertanversammlung sprechen, die unverbindliche Bitten an die Politik formuliert.
Ich pflichte Frau Van Straelen bei, weil sie es auf den Punkt bringt: komplexe Probleme in einer komplexen Gesellschaft lassen sich nicht mit Hau-Ruck-Referenden und vermeintlich simplen, aus der Hüfte heraus geschossenen "Lösungen" sinnvoll behandeln. Für die Untauglichkeit populistischer Schnellschüsse gibt es ja derzeit Beispiele zuhauf - übrigens auch aus der Schweiz. Ich empfehle Herrn Marcel Scholzen die Lektüre folgender Bücher von David van Reybrouck, der zusammen mit einem Dutzend weltweit berühmter Fachleute in Sachen Demokratie und Bürgerbeteiligung maßgeblich dazu beigetragen hat, dass wir im PDG im Frühjahr einstimmig einen institutionalisierten Bürgerdialog als weltweites Pilotprojekt aus der Taufe heben konnten. Die Bücher Van Reybroucks heißen: "Für einen anderen Populismus" und "Gegen Wahlen". Vielleicht helfen ihm ja Reybroucks Thesen, den naiven, blinden Glauben an Ja-Nein-Volksabstimmungen ohne ausgiebige und gründliche Debatten etwas zu relativieren. Den verantwortungsbewussten Bürgern, die JA gesagt haben, wünsche ich jedenfalls viel Erfolg und Genugtuung.
@ Guido Scholzen: Demokratie und Sozialismus ist wie Äpfel mit Birnen vergleichen. Demokratie ist ein politisches System und hat als Gegenpol Diktatur. Sozialismus ist ein wirtschaftliches System und hat als Gegenpol den Kapitalismus, auch nicht das Gelbe vom Ei.
@ Marcel Scholzen: Die Schweiz steht wirtschaftlich gut da, weil sie seit fast Anfang des vergangenen Jahrhunderts erst jüdisches Kapital nicht rausgerückt hat und außerdem Steuervorteile bietet und somit MASSIV Korruption und Geldwäsche betrieb/treibt., nicht, weil es Volksbefragungen gibt, die übrigens im Schnitt von nicht mal der Hälfte der Bevölkerung befolgt wird, von denen kaum mehr als die Hälfte dem Projekt zustimmen. Sonst wäre es ein simples Bergvolk, das Käse exportiert. Was meinen Sie, wie schnell es Belgien nicht mehr gäbe, wenn man Flamen vor simple Fragen zum Weiterbestand Belgiens stellte ? Man kann die Geschichte dieser beiden Staaten nicht vergleichen.
Werter Herr Velz. Ihre Meinung in Ehren. Man kann die Sache drehen wie man will, die Schweiz ist trotzdem ein stabilerer Staat wie Belgien. Wenn Sie Recht haetten, duerfte es die Schweiz ueberhaupt nicht geben oder waere ein gescheiter Staat wie in Afrika. Nur dem ist nicht so. Es ist einer der wohlhabensten Staaten Europas. Man muss Volksabstimmungen richtig vorbereiten, dann gehts. Und Demagogen gibt es ueberall. Auch in belgischen Parlamenten zum Beispiel der Flaams Belang. Ganz ohne Volksabstimmung. Mir scheint es eher so, dass es in Belgien der MUT und POLITISCHE WILLE fehlt, Volksabstimmung zuzulassen, weil man Angst vor der Meinung des Buergers hat. Auch und vor allem Angst um die Schoenen Poestchen und guten Gehaelter. Warum nicht mal versuchsweise Volksabstimmungen einfuehren ? Dann sieht man, was geht und nicht geht. Probieren geht ueber studieren.
Und wenn es dann nicht geht, Herr Scholzen, dann “zitten we met de gebakken peren”. Dann ist das nämlich zu befolgen, dann kann man nicht sagen, nö, war nur mal so ne Idee. Vlaams Belang’s dämliche Aussagen gibt es, sie haben aber weiter keine Auswirkung, ausser, daß eben viele Menschen auch jetzt schon drauf reinfallen. Eine erste Volksabstimmung wäre hier mal interessant: “Interessieren Sie sich für Politik ? JA / NEIN”, dann käme man locker zum Entschluss: 75% NEIN, und mit diesen Typen wollen Sie Politik bestimmen ?? Dann bekämen eben nur andere Personen schöne Pöstchen, was ja durch Wahlerfolge schon jetzt der Fall ist. Wie gesagt, warum die Schweiz einer der wohlhabensten Staaten Europas ist, habe ich oben erklärt ... sicher nicht wegen der tollen fortschrittlichen Politik (siehe Wahlrecht für Frauen u.a.)
- Das Schweizer Modell funktioniert auch deshalb, weil es 26 gleichberechtigte Kantone und vier Sprachgruppen gibt und nicht die Bipolarität wie in Belgien.
- Auch dort ist nicht alles Gold, was glänzt: Die reichen Kantone (6) zahlen einen Finanzausgleich an die ärmeren (20). Zürich und Zug finanzieren Bern und Wallis... und murren dagegen. (NZZ 12.07.2019)
- Die Wahlbeteiligung steigt nur ausnahmsweise auf 60 %, kann auch bei 34 % liegen.
- Vier Wahltermine (s. Wikipedia) im Jahr? Hier undenkbar. Schon jetzt ist es schwierig, alle paar Jahre die Leute dazu zu bringen, wählen zu gehen oder als Beisitzer in einem Wahlbüro zu fungieren.
- Neben dem „Volksmehr“ gibt es dort ein „Ständemehr“ als Ausgleich und Bremse.
- Was eine "unverbindliche Volksbefragung“ anrichten kann, sehen wir in Großbritannien mit dem Brexit.
- In Belgien wäre dabei die Spaltung Nord/Süd vorprogrammiert. Siehe die Königsfrage.
- Volksentscheide „auf Probe“? Was soll das bringen? Wer würde sich da die Mühe machen, wählen zu gehen?
Belgien hat bereits eine "Volksbefragung" alle paar Jahre. Sie nennt sich "Wahlen".
Zitat : "...einen Themenvorschlag hinterlegen.“ Die genauen Bedingungen dafür werden der Öffentlichkeit noch mitgeteilt."
Wenn der Bürger nicht mit egal was vorstellig werden darf, bewahrheitet sich damit die Befürchtung, dass die institutionalisierung dieses angeblichen "Bürgerdialoges" nur dem Zweck dient, sich einem "wahrhaftigen Bürgerdialog" nicht stellen zu müssen ! So schaffen es unsere Oberen sich die Bürgerbelange (erste DG-Kompetenz) vom Halse zu halten und zu schaffen, um ihr eigenes Süppchen in Ruhe und ungestört kochen zu können!
Diesen Buergerdialog kann man ruhigen Gewissens als "Realitaet geworden Popolismus" bezeichnen, weil es eine einfache Antwort auf ein komplexes Problem ist, naehmlich dem Wunsch nach mehr direkter Demokratie. Ist nur einer neuer Beirat wie soviele in der DG.
Mich würde mal interessieren, wie genau Herr Marcel Scholzen beispielsweise im Fall der Online-Petition von S. Hellenbrandt und N. Brüls zu Kindergeld und Patchworkfamilien das zu gestalten gedenkt, was er als "direkte Demokratie" bezeichnet, also eine Volksbefragung. Er möge dazu beispielsweise die Seite vier des GrenzEcho vom 18. September nehmen, alle Argumente abwägen und anschließend folgendes vorbereiten: eine umfassende, ausgewogene Information für jeden direkt zu befragenden Bürger in leichter Sprache, drei (maximal !) aufeinander aufbauende Fragen, klare Auswertungskriterien (wieviel Beteiligung, welche Mehrheit ...). Mit vagen Vorstellungen über "direkte Demokratie" ist der Sache nicht gedient. Erst wenn mal konkrete, gut durchdachte Umfragen zu Verbesserungsvorschlägen mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für vernetzte Bereiche auf den Tisch gelegt werden, können Volksbefragungen zu Chancen werden. Der jetzt eingesetzte Bürgerrat und die Bürgerversammlungen heben sich von Hauruck-Referenden dadurch ab, dass sie sich Zeit nehmen und vor der Entscheidung ausgiebig austauschen und disputieren.
Herr Velz. Danke für die Antwort. Nur Ihre Fangfragen werde ich nicht beantworten. Hier geht es um Grundsätzliches der Demokratie. Ich bin der Meinung, wenn der Bürger Personen wählen kann, kann er auch in Sachfragen entscheiden. Richtig vorbereitet, ist das machbar. Und was im Bürgerdialog möglich ist, kann auch in der ganzen Gesellschaft stattfinden, dh diskutieren und disputieren, um sich eine Meinung zu bilden, die nötig ist, um abstimmen zu können. Nur dazu fehlt der politische Wille. Zwecks Beruhigung wird dann ein zusätzlicher Debattierklub wie dieser Bürgerdialog geschaffen, der genauso unnötig ist wie der belgische Senat.
Herr Scholzen, was nennen Sie denn "gut vorbereitet" ? Erläutern Sie doch bitte einmal im Detail, wie denn beispielsweise eine Befragung zu den Patchworkfamilien "gut vorbereitet" werden kann, wenn Sie meinen Vorschlag schon als "Fangfragen" abtun. Für mich jedenfalls gilt: ebenso wenig wie ich meine Enkel Lehrern oder Lehrerinnen überlassen möchte, die nicht gut dafür ausgebildet sind oder nicht genau geplant haben, wie sie den Kindern Sachwissen beibringen können, ebenso wenig möchte ich unser Gemeinwesen Menschen überlassen, die nach schnellen Volksentscheiden rufen, sich aber weigern, präzise Kriterien dafür zu entwerfen, ausgiebig zu diskutieren und sich wissenschaftlich-empirisch begleiten zu lassen. Noch einmal: ich glaube an die Kraft unserer Bürgerbeteiligung: Die Bürger suchen sich selbst die Themen, besorgen sich selbst Input von selbst gewählten Fachleuten, tauschen aus und verfassen einen gemeinsamen Katalog von Empfehlungen oder Forderungen an Parlament und Regierung. Dieses Ostbelgien-Modell wird Schule machen und strahlt jetzt schon - weltweit.