Pünktlich um zehn stehe ich neben einem Schießplatz im Lager Elsenborn. Vor mir 23 angehende Reservisten plus Ausbilder und Erste-Hilfe-Offizier, dahinter die von Wildblumen gesprenkelte Weite des Hohen Venns, über uns wenige Federwolken, blauer Himmel und Sonnenschein.
In voller Montur, mit Ohrenschutz, Schutzbrille und Pistole, nimmt die eine Hälfte der Gruppe Stellung ein. Es ist der erste Übungstag mit Pistolen. Bisher haben die Rekruten nur am Gewehr geübt. Geschossen wird mit scharfer Munition auf wenige Meter entfernte Ziele.
Die Übung heißt "Dublette", weil jeder Schütze zwei Schüsse kurz hintereinander abfeuern muss. So wird ein Gegner zuverlässiger außer Gefecht gesetzt, erklärt die Kommandantin der Gruppe mir. Ihren Namen will sie lieber für sich behalten. Das geht vielen in der Truppe so. Ob aus Bescheidenheit oder aus Sicherheitsgründen lässt sich nicht so gut sagen, aber mir fallen sofort die große Hingabe und der Stolz auf, die die Zugehörigkeit zur Armee für viele hier bedeuten.
Mich beeindruckt so etwas. In der Armee muss man sich unterordnen. In einer Zeit, in der Individualismus groß geschrieben wird, ist die Verpflichtung für das eigene Land wie hier in der Armee außergewöhnlich. Dementsprechend wenige Zivilisten entscheiden sich auch für eine zweite Karriere als Reservist bei der Armee.
Vierwöchige Ausbildung
Wer Reservist werden will, muss einer vierwöchigen Ausbildung folgen. "Die ersten beiden Wochen sind MIF, das ist eine individuelle Phase. Die beiden folgenden Wochen sind 'Force Protection', da arbeiten sie in Gruppen. Die Rekruten sehen etwas von allem: Schießübungen, Drill, Reglement, Normen und Werte der Armee und Taktik. Der Großteil ist dann aber im Gelände, sie schlafen im Zelt unter freiem Himmel und lernen, wie man in der Natur durchkommt und so weiter", erklärt die Kommandantin.
Normalerweise findet die Ausbildung für niederländischsprachige Kandidaten am Zentrum für Grundausbildung und Schulung Nord (CBOS) in der Kaserne Leopoldsburg statt. Wegen der Brandgefahr dort wurden die Schießübungen in diesem Jahr nach Elsenborn verlegt.
Die Gründe, sich für die Reserve der Armee zu verpflichten, sind vielfältig. In der Gruppe sind - um nur ein paar Beispiele zu nennen - ein Uniprofessor, der regelmäßig Kolumnen für die Tageszeitung "De Morgen" schreibt und in der Armee eine andere Welt kennen lernen will, eine Sprachlehrerin, die ihre Kenntnisse mal als Übersetzerin in einem anderen Rahmen einsetzen will, eine zivile Armee-Angestellte, die durch die Ausbildung auch Einsätze im Ausland begleiten darf, ein N-VA Pressesprecher, der - ganz linientreu - nach den Anschlägen von Paris und Brüssel "etwas tun" möchte und ein Soldat im Ruhestand, der als Reservist doch noch die Chance hat, seinen Beruf weiter auszuüben.
"Ich glaube es ist wichtig für die Armee, Zugang zu allen möglichen Kompetenzen zu haben und wenn man diese Kompetenzen nicht beim aktiven Personal findet, dann ist es toll, wenn man Bürger als Reservisten rekrutieren kann, so dass sie ihre Fähigkeiten in den Dienst der Armee stellen und ihren Teil beitragen können", erklärt der angehende Reservist und Ex-Soldat Walter Van Dyck. Er freut sich über das Engagement seiner Co-Rekruten für die Armee und über ihre große Motivation während der Ausbildung.
Kein Zuckerschlecken
Die ist übrigens kein Zuckerschlecken. Von früh morgens bis spät abends ist alles durch getaktet. Als ich um zehn Uhr auf dem Schießplatz ankomme, sind die Rekruten schon mehr als vier Stunden auf den Beinen. Das lässt den bürgerlichen Alltag in einem ganz anderen Licht erscheinen, erzählt der N-VA-Mediastratege und Pressesprecher von Bart de Wever, Joachim Pohlmann, mit ziemlich breitem Grinsen. "Wenn ich am Wochenende nach Hause komme, dann überfällt mich jetzt plötzlich eine enorme Freiheit. Hier ist alles strikt geregelt, alles passiert auf Befehl, von morgens halb sechs bis abends halb elf ist alles vorgeschrieben. Und wenn man am Wochenende wieder selbst entscheiden darf, dann ist selbst der Gang zum Bäcker eine befreiende Erfahrung."
Die Ausbildung der Reservisten ist, laut Aussagen aller Anwesenden, eine Win-Win-Situation: Die Armee kann ihren Personalmangel kompensieren. Dafür können die Reservisten ihre Kenntnisse mal in einem anderen Rahmen einsetzen. Meistens haben sie ein Bachelor- oder Masterdiplom.
Ihre militärische Ausbildung ist kürzer als die von regulären Soldaten, erklärt die Kommandantin. "Sie haben nur vier Wochen Ausbildung, während normale Rekruten zehn bis zwölf Wochen Ausbildung haben. Deshalb müssen sie viele Lektionen vorher, auf unserer e-learning-Plattform, absolvieren. Ansonsten merkt man schon, dass die angehenden Reservisten ganz anders an den Lektionen teilnehmen. Sie sind viel kritischer, das ist auch eine Herausforderung für uns."
Auch das mit dem unbedingten Gehorsam sei bei den angehenden Reservisten nicht so einfach wie bei den jungen Rekruten für die Armee, die normalerweise viel jünger sind und noch zu Hause wohnen, schmunzelt die Kommandantin.
Vom Sanitätsdienst bis hin zur Cyber-Spionageabwehr
Nach ihrer Ausbildung werden die Reservisten - je nach Fähigkeiten - einer bestimmten Einheit zugewiesen. Das geht vom Sanitätsdienst über Pressearbeit bis hin zur Cyber-Spionageabwehr. Sie arbeiten am Boden, bei der Luftwaffe oder der Marine. Alle Reservisten verpflichten sich, jedes Jahr ein paar Tage für die Armee zu arbeiten. Wann und wie lange genau, entscheidet jeder freiwillig. Die Arbeit wird bezahlt. Wer auf Auslandseinsätze will, muss vor jeder Mission noch ein zusätzliches Training absolvieren.
Nach rund anderthalb Stunden beim Schießtraining geht es für mich wieder Richtung Heimat. Der Weg zurück aus dem Lager führt über holperige Wege vorbei an ziemlich alten Gebäuden und rostigen Geschützüberresten. Man sieht, dass sich hier jemand Mühe gibt, alles in Schuss zu halten, aber selbst das kann über den desolaten Zustand vieler Baracken nicht hinwegtäuschen. Dass in die Armee jahrelang nicht investiert wurde, ist hier nur zu offensichtlich.
Dass jeder, dem ich begegne, trotzdem ausgesucht höflich, freundlich und respektvoll ist, beeindruckt mich deshalb umso mehr. Zu diesem Schluss kommt auch Pressesprecher Joachim Pohlmann: "Wenn ich früher über die Armee nachgedacht habe, ging es immer um Flugzeuge, Schiffe oder Material. Aber wenn du selbst dabei bist, merkst du - und das ist das schöne an der Ausbildung -, dass die Armee mehr ist als nur Panzer oder Schiffe, dass die Armee auch Menschen sind."
Auf dem Rückweg komme ich ins Grübeln. Die Armee ist definitiv eine andere Welt. Eine Welt, in der Werte wie Ehre, Disziplin und Kameradschaft viel bedeuten. Das ist für mich ziemlich befremdlich, aber auch faszinierend. Denn auch wenn ich nicht an die heile Welt von damals glaube, glaube ich genau so wenig an den gnadenlosen Individualismus von heute.
Text und Bilder: Anne Kelleter