"Daydream" sang 1969 die Brüsseler Band "The Wallace Collection". Der Song wird ein Hit in Europa, entspricht er doch genau der psychedelisch angehauchten Prog-Rock-Musik der Zeit. Und genau wie die Musik war auch der Geist an vielen französischsprachigen Universitäten beeinflusst von außen. Die Studentenrevolutionen von Nanterre und Paris unter Daniel Cohn-Bendit beeinflussten auch die Brüsseler Studenten und Professoren.
Am 21. Mai 1968 fordert das gesamte Lehrpersonal der Freien Universität Brüssel, dass eine demokratische Versammlung zur Leitung der Universität eingesetzt wird. Studenten, Professoren und Forscher sollen mehr Mitspracherecht erhalten. Die große Halle der Universität wird besetzt. Es herrscht ein Geist von Freiheit und Fortschritt und auch wenn die Proteste lange nicht den Umfang erreichen wie in Paris, finden die Rufe nach mehr Mitspracherecht Gehör.
Reform der Gesellschaft
Und auch in Lüttich fasst die Studentenrevolte Fuß. Zwischen Oktober 1968 und März 1969 reihen sich Generalstreiks, Demonstrationen und Versammlungen aneinander. Und auch hier geht es den Universitätsangehörigen um mehr als nur eine Reform der Institution. Es geht, wenn man so will, um eine Reform der Gesellschaft. Beispielhaft dafür ist die Referenz an die Forderungen der Arbeiterbewegung in der Rede des französischen Studentenführers Jacques Sauvageot im Herbst 1968 in Lüttich.
In der Wallonie beschäftigte man sich also nicht oder nur wenig mit dem Sprachenstreit und der Walen-buiten-Bewegung von Löwen. Es wehte ein anderer Wind, bestätigt auch der ostbelgische Historiker Carlo Lejeune. "Wer in Lüttich studierte, der erlebte die 68er aus einer ganz anderen Perspektive. Das war mehr diese 68er-Bewegung wie sie in Frankreich stark war, wo vor allem die Nöte und Sorgen der Arbeiter im Vordergrund standen. Es ging um die 40-Stunden-Woche, um bessere Löhne, aber vor allen Dingen auch um mehr Partizipation in den Unternehmen, wo es nach wie vor sehr starke patriarchalische und hierarchische Strukturen gab."
Schwerer Stand für Deutschsprachige
Dass der fortschrittliche Geist trotzdem manchen Vorurteilen zum Opfer fiel, zeigt das Beispiel von Alfred Renardy. Er studierte 1968 Agronomie in Huy. "Damals war ich der einzige Deutschsprachige in der Klasse und wurde als 'chleu' oder 'boche' beleidigt. Man hat mich mit Linealen geschlagen. Es war für mich eine sehr harte Zeit damals. Ich hege heute aber keinen Groll mehr gegen die Wallonen. Das war eben so, ich hab das ertragen, aber es war eine harte Zeit", erinnert sich Renardy.
Trotz Vorurteilen haben die Studienjahre in Huy den Lontzener geprägt. "Es waren auch Jungs aus Arlon in der Klasse, die mir erzählten, wie man die dortige deutschsprachige Minderheit von heute auf morgen frankophonisiert hatte. Man hat die Lehrer, die Deutsch konnten, aus den Primarschulen genommen und hat die Kinder nur noch auf Französisch unterrichtet. Das war eine Sache, die mir unter anderem auch für unsere Gegend Angst machte."
Aufbruch
Das politische Interesse von Alfred Renardy wurde dadurch geweckt. Durch die immer noch vorherrschende Abneigung im Landesinneren gegen alles Deutsche wurden sich die ostbelgischen Studenten ihrer besonderen kulturellen Identität nochmal bewusst. Dieses neue Bewusstsein brachten sie auch mit nach Hause. "Wir waren ja Studenten, die auf Hochschulen oder an der Universität waren. Die Sachen, die wir dort erlebt haben, brachten wir dann mit nach Haus in unsere Kreise. Hier waren wir zwar noch ein bisschen altbackener, aber der Aufbruch war da", so Renardy.
Anne Kelleter