Der Saal 07 im großen Hörsaalgebäude der Aachener Universität ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Überwiegend Studierende sind gekommen, aber auch Schüler, Senioren, Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die verstehen wollen, was da geschehen ist zu Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft, vor allem im Zweiten Weltkrieg, in den Ghettos, den Konzentrationslagern. Eingeladen hat der Lehrstuhl Didaktik der Gesellschaftswissenschaften mit Professor Christian Kuchler als Initiator.
Vorne am Rednerpult steht der Holocaustüberlebende Tswi Herschel. Der 75-Jährige hält seinen Vortrag mit dem Titel "Lebenskalender eines jüdischen Jungen". Den Lebenskalender hat ihm sein Vater kurz vor dessen Tod 1943 gezeichnet.
Das Überraschende beim Vergleich der Wünsche des Vaters für den Sohn und dem realen Lebensweg Tswis sind die Gemeinsamkeiten: So wünschte sich Vater Nico als überzeugter Zionist schon 1943 für seinen Sohn die Möglichkeit der Alija, die er selbst aufgrund der Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten nicht verwirklichen konnte. Alija ist ein Begriff aus der Bibel, der die Rückkehr der Juden nach Israel bezeichnet.
Herschels Eltern Nico und Ammy waren Niederländer, die zunächst im Amsterdamer Ghetto lebten, bevor sie im Juli 1943 in Sobibor in der Gaskammer starben. Ihr erst wenige Monate alter Sohn Tswi konnte mithilfe einer befreundeten Familie aus dem Ghetto geschmuggelt werden und überlebte bei Pflegeeltern, bevor seine Großmutter ihn zu sich nahm.
Nach einem erfolgreichen Berufsleben als Ingenieur trat Tswi in die Fußstapfen seines zionistischen Vaters und segelte 1986 mit seiner Frau Annette auf seinem eigenen Segelboot von den Niederlanden bis nach Israel, wo er sich mit seiner Familie niederließ.
Was treibt Tswi Herschel an, seit 15 Jahren seine Lebensgeschichte immer wieder vor jungen Menschen in aller Welt zu erzählen? "Ich habe die Geschichte studiert und ich denke, wenn man die eigene Geschichte nicht kennt, dann hat man keine Zukunft und dann machen wir genau denselben Fehler, den wir in der Vergangenheit gemacht haben", so Herschel. "Ich will mit offenen Händen Brücken bauen." Und was ist der Kern seiner Botschaft an die junge Generation? "Nicht mehr zu diskriminieren", sagt Herschel geradeheraus.
Wie hat er das Schreckliche in seinem Leben, das geprägt war durch Flucht und Verlust, durch Gräuel und Unmenschlichkeit, verarbeitet? In der Psychologie spricht man von Resilienz, von der Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen. "Es ist passiert und ich habe das akzeptiert. Die Kraft liegt im positiven Denken", so Herschel. "Natürlich ist man in gewissen Momenten emotional unten, aber es gibt immer einen Ausweg."
rs/mg