Kriege und Migration, Klima- und Umweltfragen, Fanatismus, digitale Revolution – die Probleme und Herausforderungen unserer Gesellschaft sind groß und komplex. Zur Debatte über die aktuellen Fragen wollen auch die Geisteswissenschaften ihren Beitrag leisten und gehört werden.
Mit diesem Ziel kommen Fachleute aus allen Erdteilen ab Sonntag in Lüttich zusammen. Es ist die erste Weltkonferenz der Geisteswissenschaften. Organisiert wird sie von einer Stiftung der Stadt Lüttich, der Provinz und der Universität in Kooperation mit der Unesco, der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur.
Die Organisatoren der "humanities" warnen vor einer übertechnisierten Welt, die keinen Raum mehr lässt für Reflexion und Debatte. "Die Geisteswissenschaften nehmen nicht mehr an der öffentlichen Debatte teil. Aktuelle Probleme werden nur noch technisch betrachtet. Wir finden, dass man mit den Geisteswissenschaften bessere Lösungen finden könnte", sagt Jean Winand, Dekan der Fakultät für Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Lüttich und Mitverantwortlicher für das Programm der Weltkonferenz.
Winand beklagt die Tendenz in vielen Ländern, die Geisteswissenschaften aus den Lehrplänen und Forschungsprogrammen zu verbannen. Regierungen seien nur noch auf wirtschaftliche Fragen fixiert. "Das ganze Denken und Handeln der Regierungen wird nur noch von wirtschaftlichen Interessen beherrscht: von der Sorge um Beschäftigung, die sicher ihre Berechtigung hat. Aber Wissenschaften, die nicht nützlich und rentabel erscheinen, werden verdrängt oder instrumentalisiert."
So werde beispielsweise die Philosophie nur noch für Bereiche wie Bioethik, Recht oder Politik als nützlich gesehen. Sprachen seien nur noch als Kommunikationsmittel für Übersetzungen interessant. Forschung über Sprachgeschichte oder Literatur dagegen werde vernachlässigt.
Winand warnt: in einer rein technisch und auf Nützlichkeit hin orientieren Welt verliere die Gesellschaft ihre Orientierung. Die nach Sinn suchenden Geisteswissenschaften müssten neben den exakten Wissenschaften einen gleichberechtigten Platz haben. "Wo Orientierung verloren geht, entsteht Raum für Populismus und Radikalismus. Dann können Bewegungen wachsen, die mit extrem einfachen Antworten auf extrem komplexe Probleme daher kommen."
Kulturerbe
Herausforderung und Verantwortung für einen Planeten im Umbruch – unter diesem Motto haben die Organisatoren der Weltkonferenz ein ambitioniertes Programm zusammengestellt. Bis zum 12. August werden in den Hörsälen der Lütticher Uni Vorträge und Diskussionen stattfinden – zu sechs großen Themenschwerpunkten: Umwelt und Klimawandel, Kriege und Migration, interkulturelle Probleme. Welche Rolle spielen die Religionen? Wie wird Geschichte interpretiert und von der Politik instrumentalisiert?
Die Frage nach der Bedeutung des Kulturerbes liegt besonders der Unesco am Herzen. "Zum Beispiel das materielle Kulturerbe: Gebäude oder archäologische Stätten werden in Kriegen oder nach Revolutionen systematisch zerstört, um Spuren der Vergangenheit auszulöschen. Zum immateriellen Kulturerbe gehören Brauchtum und Sprachen. Wir sind für sprachliche Vielfalt und gegen die Vorherrschaft einiger großer Sprachen."
Auch die Digitalisierung ist ein großes Thema: Wie verändert das Internet unser Denken und Handeln? 250 Redner kommen zu Wort. Wissenschaftler, aber auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und freischaffende Autoren. Präsident der Konferenz ist der frühere Minister für Unterricht und Erziehung in Mali, Adama Samassekou. Die Konferenz richtet sich nicht nur an Akademiker, sondern auch an Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft.
Jean Winand wünscht sich die Geisteswissenschaften als Rückgrat der demokratischen Gesellschaft. "In vielen autoritär regierten Ländern versucht man zuerst, die Presse zu kontrollieren oder mundtot zu machen und dann die Universitäten, vor allem die Philosophischen Fakultäten, wo man über den Sinn, über die Gesellschaft nachdenkt und der Regierung in die Quere kommen kann."
Die Weltkonferenz will am Ende eine Agenda für die kommenden Jahrzehnte aufstellen, die die Geisteswissenschaften wieder nach vorne bringt. 800 Teilnehmer haben sich für die Konferenz eingeschrieben. Interessenten sollten sich online registrieren auf humanities2017.org.
Michaela Brück - Bild: Benoit Doppagne/Belga