Solch eine Demo hat Seltenheitswert: Arbeitgeber und Gewerkschaften der europäischen Stahlindustrie ziehen seit dem späten Vormittag Seite an Seite durch Brüssel. Vom Auszubildenden im Lütticher Stahlbecken bis zum Konzernchef in London: Die gesamte Stahlbranche in Europa macht mobil. 5.000 Stahlarbeiter aus 18 Ländern nehmen an dem Protestmarsch teil. Mit Verkehrsbehinderungen ist also nicht nur wegen des winterlichen Wetters zu rechnen.
Die gesamte Stahlindustrie in Europa leidet. Das Wasser steht ihr inzwischen bis zum Hals: Branchenriesen wie ArcelorMittal und ThyssenKrupp ächzen unter dem Preisverfall. Und der Schuldige ist schnell gefunden: Er heißt China, sagt Geert Van Poelvoorde vom europäischen Stahlverband Eurofer.
Die in China hergestellte Stahlmenge habe sich in den letzten Jahren versiebenfacht. Inzwischen würden die Chinesen mit ihren Überschüssen den europäischen Stahlmarkt regelrecht überschwemmen - und zwar zu Billigpreisen, sagt Van Poelvoorde.
Im vergangenen Jahr sollen die Chinesen 110 Millionen Tonnen Stahl exportiert haben. Zum Vergleich: Der jährliche Gesamtbedarf für ganz Europa liegt bei 150 Millionen Tonnen. Sollte die Europäische Union nichts gegen die "unlauteren Importe aus China" unternehmen, dann drohten Tausende Arbeitsplätze in der ohnehin schon krisengeplagten Stahlindustrie in Europa zu verschwinden, warnen die Stahlarbeiter.
Das Problem: Weil die Nachfrage in China deutlich eingebrochen ist, verkaufen die chinesischen Hersteller ihre Überschüsse nach Europa - und zwar koste es was es wolle. Offenbar sogar zu Preisen, die unter den Herstellungskosten liegen.
In Belgien arbeiten insgesamt 25.000 Menschen in der Stahlindustrie. Gut 10.000 davon in den Arcelor Mittal-Werken von Gent, Genk und Lüttich. Belgien und sechs weitere Staaten hatten der EU-Kommission kürzlich einen Brandbrief geschrieben. Darin fordern sie die Brüsseler Behörde auf, die heimische Industrie gegen "unfaire Handelspraktiken" zu schützen. Auch Wirtschaftsminister Kris Peeters hat die EU-Kommission in einem Schreiben aufgefordert, etwas zu unternehmen.
Die Botschaft ist angekommen: Bereits am Freitag hat die Kommission bestimmte Stahlerzeugnisse aus China und Russland mit Einfuhrzöllen belegt. Weitere Hilfsmaßnahmen würden folgen, erklärt der zuständige Wettbewerbskommissar Jyrki Katainen. "Wir wollen unserer Industrie helfen, die schwierigen Zeiten zu überstehen."
Gegen drei weitere Stahlprodukte aus China hat die EU-Kommission Anti-Dumping-Untersuchungen eingeleitet. Dabei soll festgestellt werden, ob ausländische Erzeugnisse in Europa zu einem künstlich niedrigen Preis verkauft werden.
Das größte Problem sei die Überproduktion, sagt Wettbewerbskommissar Katainen. Schwierigkeiten wie aktuell beim Stahl drohten auch in anderen Industriezweigen wie beim Papier, Glas, Porzellan und Aluminium. "Wir werden mit unseren Handelspartnern über die Probleme sprechen", sagt Katainen.
Ob das die Stahlarbeiter beruhigen wird, ist aber fraglich. Die europäischen Stahlkocher blicken bereits mit Sorge auf eine andere Entscheidung: Zum Ende des Jahres könnte China der seit Jahren angestrebte Status einer Marktwirtschaft erteilt werden. Dadurch würden Einfuhren nach Europa erleichtert. Die hiesigen Stahlhersteller stehen also weiter unter Druck…
Alain Kniebs - Bild: Eric Lalmand (belga)