Die Behörden arbeiten an Notplänen für den Fall eines Blackouts. Drei der sieben belgischen Atomreaktoren liegen derzeit still. Hier rächen sich die Unbedarftheit und die mangelnde Weitsicht der politischen Verantwortlichen, meint Roger Pint.
Belgien, ein kleines Land, das man dennoch anscheinend zuweilen vom Weltraum aus sehen kann, weil es so hell erleuchtet ist. Bis jetzt. Denn eben in diesem Land drohen im Winter diese Lichter auszugehen. Und das ist nicht mehr allein die Horrorvision einiger Berufspessimisten oder Verschwörungstheoretiker. Nein, ein Blackout ist eine reale Gefahr. Ansonsten würde nicht der föderale Krisenstab an Notfallplänen arbeiten. Und die zuständige Staatssekretärin Catherine Fonck hat die Problematik jetzt auch kleinlaut eingeräumt.
Ein Land in Westeuropa, im Herzen der EU, muss auf einen milden Winter hoffen, damit der Strom nicht ausfällt, fast schon zu abstrus, um wahr zu sein.
Klar könnte man auf den ersten Blick das Schicksal als möglichen Schuldigen bemühen. Zwei Atomreaktoren fallen aus, weil es vermutlich bei der Herstellung der Reaktorkessel in den 1980er Jahren zu Konstruktionsfehlern gekommen war. Die Folge sind Materialschwächen, man spricht auch von Mikrorissen, die dazu geführt haben, dass die beiden Meiler abgeschaltet wurden. Doel 4 ist außer Betrieb, nachdem ein Unbekannter die große Dampfturbine sabotiert hatte. Beide Schuhe muss sich vordergründig kein Politiker anziehen.
Und doch ist die Verantwortung der politischen Klasse erdrückend. Die Naivität, die Unbedarftheit, die Kurzsichtigkeit, die man in der Brüsseler Rue de la Loi in den letzten 30 Jahren an den Tag gelegt hat, das ist im wahrsten Sinne des Wortes "dümmer als der Staat erlaubt".
Die Ursünde wurde in den 1980er und 1990er Jahren begangen, mit Namen: die Übernahme der Société Générale durch die französische Suez-Gruppe. Zwar war die Société Générale ein Privatunternehmen, ebenso wie die Tochtergesellschaft Tractebel. Dennoch hätte es die damalige Regierung nie zulassen dürfen, dass diese einstigen Flaggschiffe der belgischen Industrie in ausländische Hände übergehen. Tractebel kontrollierte über seine Filialen Electrabel und Distrigaz den kompletten belgischen Energiemarkt. EU hin oder her, aber kein Land der Welt hätte es erlaubt, dass ein strategisch so fundamental wichtiges Unternehmen an ausländische Investoren verscherbelt wird.
Die Belgier sind in ihrer Einfalt aber konsequent geblieben. Von einer Energiepolitik, die den Namen verdient, konnte nämlich auch in den Folgejahren keine Rede sein.
Immerhin stimmte die Show, als der damalige Premier Guy Verhofstadt 2002 unter dem Druck des grünen Koalitionspartners vollmundig den Atomausstieg ankündigte. Als eines der ersten Länder der Welt wollte Belgien auf die Kernenergie verzichten. Man muss kein Zyniker sein, um zu behaupten, dass der gute Herr Verhofstadt seinerzeit wohl selbst nicht an diesen Atomausstieg geglaubt hat, nicht eine Sekunde. Nicht umsonst hat man damals ein Hintertürchen eingebaut. Demnach sollte vor Ablauf der Frist eine Bestandsaufnahme vorgenommen werden, um zu ermitteln, ob man auch wirklich auf die Kernenergie verzichten kann. Man hätte Electrabel und Co auch gleich sagen können, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.
Im Grunde wusste jeder, dass der Atomausstieg nicht mehr war als heiße Luft in Geschenkpapier. Die Folge: Von einer "Energiewende", wie sie etwa im Moment in Deutschland Thema ist, von einem allgemeinen Aufbruch in eine neue Ära war in Belgien nichts zu spüren. Schlimmer noch: Weil es ständig widersprüchliche Aussagen über die Zukunft der Kernenergie gab und gibt, passierte erst mal gar nichts mehr. Ohnehin fehlt es den Franzosen an der Spitze von GDF-Suez an gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein auf einem Peripher-Markt wie Belgien. Man begnügte sich also damit den Rahm abzuschöpfen.
Resultat von alledem: Jetzt gucken wir in die Röhre, jetzt droht Belgien plötzlich, auf das Niveau eines Entwicklungslands herab zu sinken. Und diese Tragödie ist leider typisch belgisch. Vergreisung der Bevölkerung, Arbeitsmarktreform, Energieproblematik: Ist uns vielleicht mal aufgefallen, dass wir im Grunde über dieselben Probleme und Herausforderungen diskutieren wie vor 15, 20 Jahren? Der Hang der politischen Klasse zur Nabelschau, zur reinen Parteipolitik, zu gemeinschaftspolitischen Zankereien, all das hat dazu geführt, dass sie ihre Kernaufgaben nicht erfüllt hat. "Gouverner, c'est prévoir", zu regieren, das heißt: voraus zu schauen. In diesem Sinne hat die Politik auf der ganzen Linie versagt. Und angesichts dieser immer noch omnipräsenten "belgischen Krankheit" muss man sich nicht wundern, wenn am Ende auch der letzte sein Vertrauen in die Politik verloren hat.
Bild: brf
Ein absolut richtiger Kommentar. Gratulation. Gut gemacht. Belgien ist eben das Land der unbegrentzten Unmöglichkeiten.
stimme Ihnen 100 pro zu, Herr Pint!!
Kopfzerbrechen bereitet mir Ihr letztes Statement, Herr Pint: " ... wenn am Ende auch der letzte sein Vertrauen in die Politik verloren hat."
Wer macht denn dann noch in Politik rum? Wo sollen wir Belgier, z. Zt noch von den vom Volk gewählten, jedoch inkompetenten, berechnenden und gerissenen Staatskünstlern "regiert", denn die nächsten Luschen ausgraben gehen?
Ist es denn völlig ausgeschlossen, dass Belgien im Notfall Strom "importiert" ?
Ich gebe dem Kommentator Recht. Aber, bereits Ende der 60er Jahre habe ich mit der Schulklasse das RWE-Werk Weisweiler besichtigt. Dort stand ein riesiges Panel , von dem aus man eine Turbine z.B. in Tirol rauf- und runterschalten konnte. Wir erfuhren, dass Europa komplett vernetzt sei . Gibt es das nicht mehr ? Ich vermute, wie so oft, dass Firmen, allen voran GDF-Suez, nur Panikmache betreiben, um die Preise anzuziehen – dies ist gegenwärtig eine allgemein übliche Methode der Industrie, um ihr Ziel zu verfolgen. Man wird erwidern, dass der Preis bei Import höher ist, aber Belgien importiert doch fast alles. Was ich der Politik vorwerfe ist, dass sie nichts gegen den Ausverkauf belgischer Firmen getan hat, wobei diese FREIWILLIG lieber Geld statt Arbeit wollten – wir sind “Gastarbeiter” im eigenen Land – nichts ist übriggeblieben. Da wundern wir uns, dass uns die anderen ausnehmen.